$ 73. Der Kriegszustand. 441
Daraus folgt aber auch, dafs die Erklärung des Kriegszustandes
nach Malsgabe des a. 17 der R.V. und der Verordnung vom 26. Juli
zustand nicht berührt. Dieser wird entschieden durch die Beantwortung
der Frage: ob eine landesherrliche Instanz — Landesherr oder Ministerium —
auf Grund eines Partikulargesetzes auf einen Militärbefehlshaber aufserordent-
liche Gewalten, insbesondere also vollziehende Gewalt und aufserordentliche
Gerichtsbarkeit, übertragen oder ob ein Militärbefehlshaber kraft Landes-
gesetzes aulserordentliche Amtsbefugnisse ergreifen kann. Dies ist das Speci-
fische des Kriegs- oder Belagerungszustandes und gerade dies ist zu verneinen.
Die Bestimmungen über die Verwendungszwecke des Militärs und über
den Wirkungskreis, die Amtsbefugnisse der Militärbefehlshaber sind Bestand-
teile des militärischen Gesetzgebungs- und Verordnungsrechtes. Sie fallen
unter R.V. a. 61, welcher die Einführung der gesamten preufsischen Militär-
gesetzgebung, Gesetze, Verordnungen, Instruktionen vorschreibt und damit
jede entgegenstehende partikularrechtliche Norm beseitigt. In Anwendung
dessen und nachdem die Reichsverfassung a. 66 die landesherrliche Ver-
wendung und Requisition des Militärs zu polizeilichen Zwecken gestattete,
sind zwar kraft dieser Ermächtigung die landesgesetzlichen Bestimmungen
über die Voraussetzungen der Requisition des Militärs aufrecht erhalten, aber
es mufsten die preufsischen Bestimmungen über die militärischen Funktionen
selbst, über Umfang und Form des militärischen Einschreitens auf Grund der
erfolgten Requisition, zur Einführung gelangen. (8. preufs. Gesetz vom
20. März 1837 und VerO. vom 17. August 1835 $$ 8—10, sowie die Militär-
konventionen mit Hamburg vom 23. Juli 1867 $ 7, mit Baden vom 25. Nov.
1870 a. 13, mit Hessen vom 13. Juni 1871 a. 13, mit Waldeck vom 24. Nov.
1877 a. 7, insbesondere für Württemberg Sarwey, Staatsrecht I 132 ff.) In
Anwendung auf den Belagerungs- oder Kriegszustand hätte die Reichs-
verfassung entweder die Partikulargesetze über denselben ausdrücklich auf-
recht erhalten oder die Einführung des preufsischen Gesetzes vom 4. Juni 1851
hätte für die aufserordentliche Regelung der Militärbefehlshabung nach Mafs-
gabe des a. 61 der R.V. erfolgen müssen. Beides ist nicht geschehen und es
ist nicht geschehen, weil gerade a. 68 der Reichsverfassung den Zweck und
Erfolg hatte, die notwendige Regelung der militärischen Verhältnisse für den
Fall des Kriegszustandes nach Subjekt, Form, Voraussetzung und Wirkung
der aufserordentlichen Ermächtigungen herbeizuführen. Damit ist aber jedes
entgegenstehende oder parallele Partikulargesetz beseitigt.
Das Resultat wird dgrch einen anderen Gesichtspunkt verstärkt. Mit
dem einheitlichen militärischen Befehl des Kaisers und der unbedingten Ge-
horsamspflicht der Militärbefehlshaber ist es unvereinbar, dafs die letzteren
dienstliche Funktionen ausüben, in Bezug auf welche sie dem kaiserlichen
Befehl entzogen sind. Obne ausdrückliche Ermächtigung von Reichs wegen
können sie in kein anderweitiges Verhältnis der Verantwortlichkeit und damit
der Abhängigkeit treten. Nähme man daher gleichsam den theoretischen
Fortbestand der Partikulargesetze über den Belagerungszustand an, so würden
doch die Militärbefehlshaber, mangels eines Reichsgesetzes, ohne oder gegen
den Befehl des Kaisers zur Ausübung oder Übernahme der aufserordentlichen
Vollmachten nicht schreiten können; sie würden bei der Ausübung derselben