Full text: Deutsches Staatsrecht. Erster Band: Die Grundlagen des deutschen Staates und die Reichsgewalt. (1)

84. Die Verbindung des norddeutsch. Bundes mit d. süddeutsch. Staaten. 37 
jedes einseitige Rücktrittsrecht nach der Klausel rebus sie stantibus ohne 
jedes Bedenken als rechtsverbindlich anerkennt, im Gregensatze hierzu aber 
durch dasselbe Völkerrecht die Rechtsverbindlichkeit eines Vertrages aus- 
geschlossen sein soll, durch welchen mehrere Staaten die Gründung eines Staats- 
wesens bezwecken, in dem sie ihre Existenz nicht gänzlich preisgeben, sondern 
in dem sie als dessen Glieder fortbestehen, wenn auch in Unterwerfung unter 
eine höhere Gewalt und in Verzicht auf einseitige Rücktrittsrechte. — Freilich 
wenn Jellinek — S. 281 — insbesondere um der vertragsmälsigen Entstehung 
des Bundesstaates zu entgehen, zu der abenteuerlichen Fiktion als „juristisch 
notwendig“ greift, „die Gliedstaaten als durch die Bundesstaatsverfassung ge- 
schaffen zu denken“, so bedarf die Unnatur solcher Konstruktionen keiner 
Widerlegung. — Vergleiche im übrigen G. Meyer, D. Staatsrecht $ 14 Note 16. 
Brie, Staatenverbindungeu $. 128 ff. und in Grünhuts Zeitschr. XI 100 ff. 149 fi. 
Freilich fürchtet Jellinek S. 256: „Alle tiefere Einsicht in das Wesen 
des Staates, welche wir der wissenschaftlichen Überwindung der naturrecht- 
liehen Theorieen verdanken, ginge augenblicks wieder verloren, wenn man auch 
nur die Möglichkeit der Entstehung irgend eines Staates durch Vertrag zugäbe.“ 
Allein das ist glücklicherweise Selbsttäuschung. Auch wer die formelle 
Möglichkeit der Entstehung des Staates und die Thatsache der Begründung 
des Bundesstaates durch Vertrag behauptet, ist weit entfernt davon, in jene 
Fiktionen des Rationalismus zurückzufallen, die den Staat über der atomisierten 
Masse der Individuen und durch Vertrag zwischen diesen letztern entstehen 
lassen. Der Staat in organischer Auffassung ist eine specifische Form der 
Gesellschaft, die erst möglich ist auf einer Kulturstufe, auf welcher das Volk 
längst durch die mannigfachsten Faktoren des Geschlechtes, des Alters, der 
Familie, der Grundherrschaft, der Treueverhältnisse, der lokalisierten Genossen- 
schaften sich gegliedert hat und mit Herrschafts-, dadurch aber auch mit 
Vertretungsverhältnissen, in denen die Individuen zu Autoritäten stehen, durch- 
setzt und durchwaltet ist. Eine vertragsmäflsige erste Entstehung eines 
Staates wird historisch, wenn überhaupt, nur nachweisbar sein als Vertrag der 
durch ihre gesellschaftliche Stellung zur Staatsbildung befähigten und berufenen 
Autoritäten; wie denn die historisch nachweisbare Thatsache der Entstehung 
des Bundesstaates durch Vertrag als vertragschliefsende Parteien nurdie Träger 
der höchsten Autorität und des umfassendsten Vertretungsverhältnisses, nämlich 
Staaten selbst, aufweist. 
54, 
Die Verbindung des norddeutschen Bundes mit den süddeutschen 
Staaten. 
Mit der Ausführung des norddeutschen Bundes war nur der eine 
Teil des Programmes erfüllt, das die Friedensverträge für die Ge- 
staltung der deutschen Dinge vorgesehen hatten. Es blieb der andere 
nicht minder wichtige Teil: die Feststellung des politischen Ver- 
hältnisses Süddeutschlands zu Norddeutschland. 
Der Prager Frieden machte für die Begründung der „nationalen 
Verbindung“ beider Teile in voller Absichtlichkeit den vorher-
	        
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