8 95. Der Schutz der Einzelstaaten. 569
3. Aus der Natur der Verfassungsstreitigkeit im eminenten Sinne
folgt fernerhin, dafs Gegenstand der Entscheidung nicht die bei einer
Verfassungzverletzung in Frage stehende Verschuldung einer Person
mit ihren strafrechtlichen, diseiplinaren oder privatrechtlichen Folgen
ist. Die Anklage der Minister oder anderer Beamten oder der
Ständemitglieder wegen Verfassungsverletzung ist ein von der Proze-
dur über Verfassungsstreitigkeiten vollkommen verschiedenes Rechts-
institut5. Jene Anklage kann begründet sein, ohne dals die Geltung
oder Auslegung der Verfassung in Frage steht. Und selbst wenn
dies im konkreten Falle stattfindet, so führt sie immer nur zur Ent-
scheidung über die Schuld des Angeklagten und ihre Folgen für seine
Person. Sie hat nicht die rechtliche Kraft, eine Verfassungsstreitig-
keit in gemeinverbindlicher Weise zu schlichten, wenn sie auch that-
sächlich das Mittel sein kann, um den Ausbruch einer Verfassungs-
streitigkeit zu verhüten oder die ausgebrochene Verfassungsstreitigkeit
durch Respektierung des Rechtsspruches als eines Präjudizes wieder
zu beseitigen. Darum ist denn auch an sich, vom streng formalen
Standpunkt aus betrachtet, die Kompetenz des Reiches, Verfassungs-
streitigkeiten zu schlichten, trotz ihrer Subsidiarität darum nicht aus-
geschlossen, weil die Einzelstaatsverfassung die rechtliche Möglichkeit
der Ministeranklage einräumt oder weil dieselbe erhoben worden ist.
Inhalt und Gegenstand der Entscheidung einer Verfassungs-
verfassung das Vorhandensein einer Verfassung im konstitutionellen Sinne in
jedem Einzelstaat und für jeden Teil eines solchen voraussetze. Ist dies
richtig, dann lag nicht eine Verfassungsstreitigkeit vor, welche erst auf das
Anrufen eines Teiles zu entscheiden war, sondern das Reich war berechtigt
und verpflichtet, die Verleihung der Verfassung als Bundespflicht zu fordern.
An zweiter Stelle stützte man sich auf a. 13 der Bundesakte und zugleich
auf die gewährte Zusage des Landesherrn. Hier ist es zweifellos, dals wenn
diese das Recht der Staatsbürger auf Verleihung einer Verfassung begrün-
deten, das hierdurch erworbene Recht durch die erfolgte Aufhebung der
Bundesakte nicht rückwärts beseitigt werden konnte. Dann durfte aber auch
nicht bestritten werden, dafs, wenn überhaupt das Recht des Reiches aus
a. 76 al. 2 begründet war, auch die Kognition dem Reiche darüber gebührte,
ob die verliehene Verfassung den Anforderungen einer konstitutionellen Ver-
fassung wirklich entspreche, dafs mithin auch eine Verfassungsstreitigkeit über
das Zutreffen dieser Anforderungen formell möglich war. Vgl. Reichstagsver-
handlungen 1872 Anlagen S. 537 ff. und v. Rönne, Deutsches Staatsrecht I 221.
5 Dies tritt klar hervor in den Partikularverfassungen, welche beide
Institute gleichzeitig besitzen: Königr. Sachsen V.U. 88 141ff. cl. 155;
Oldenburg V.U. aa. 200ff. cl. 209; Braunschweig aa. 108 fi. cl. 231;
Reufs ä L. 88 89. 91; Reufs j. L. $$ 110ff. el. $ 117; Schaumburg-
Lippe aa. 43. 46.