Full text: Deutsches Staatsrecht. Erster Band: Die Grundlagen des deutschen Staates und die Reichsgewalt. (1)

970 II. Buch. Die Reichsgewalt. 
streitigkeit bleibt vielmehr der gemeinverbindliche Ausspruch über die 
Rechtsbeständigkeit einer Verfassung oder Verfassungsbestimmung ; 
sie hat im Falle streitiger Auslegung die Natur einer authentischen 
Interpretation®. 
II. Die Kompetenz des Reiches ist nur eine subsidiäre. Sie 
tritt nur in solchen Einzelstaaten ein, „in deren Verfassung nicht 
eine Behörde zur Entscheidung solcher Streitigkeiten bestimmt ist“ ”. 
_ Selbstverständlich hat dies nicht den Sinn, dals die Kompetenz 
des Reiches dadurch ausgeschlossen ist, dals überhaupt eine parti- 
kularrechtliche Instanz zur Entscheidung von Verfassungsstreitigkeiten 
besteht, sondern sie mufs zur Entscheidung des konkreten Streitfalles 
verfassungsmälsig berufen sein. Die Kompetenz des Reiches bleibt 
daher bestehen für alle solche Fälle, in denen die partikularrechtlichen 
Gerichtshöfe oder :Schiedsgerichte zur Entscheidung nicht kompetent 
sind; und es liegt in der Natur der Sache, dals diese Behörden regel- 
mälsig nur über streitige Auslegung der Staatsgrundgesetze, insbesondere 
über die streitigen Grenzen der Mitwirkung des Landtages, nicht aber 
über Verfassungsbruch zu entscheiden haben. Sie bleibt ferner be- 
stehen, wenn die Kompetenz der Landesinstanz selbst oder die Unter- 
werfungspflicht unter den gefällten Spruch den Gegenstand der Ver- 
fassungsstreitigkeit ausmacht®. Endlich kann es nicht als die Absicht 
der Reichsverfassung angenommen werden, solche Bestimmungen der 
partikularen Verfassungen auszuschliefsen, welche die Berufung von 
der Landesbehörde an die höhere Instanz des Bundes und jetzt des 
Reiches vorgesehen ? haben. 
IH. Unter den erörterten Voraussetzungen und „auf Anrufen 
6 Sächsische Verf. $ 153: „Der hierauf“ — vom Staatsgerichtshof über 
die zweifelhafte Auslegung einzelner Punkte der Verfassung — „erteilte Aus- 
spruch soll als authentische Interpretation angesehen und befolgt werden“. 
? Solche Behörden giebt es nur in Königr. Sachsen, Braunschweig, 
Oldenburg, Lübeck, Bremen, Hamburg (Reichsgericht) und in thatsächlicher 
Wirksamkeit in Mecklenburg. Auf die Bundesinstanz selbst nehmen un- 
mittelbar Bezug: Reufs ä. L., Reufs j. L., Schaumburg-Lippe. 
8 Die Frage, ob das Freienwalder Schiedsgericht verfassungsmäfsig be- 
rechtigt war, die mecklenburgische Verfassung vom 10. Oktober 1849 für 
nichtig zu erklären, ist zweifellos Verfassungsstreitigkeit im Sinne R.V. a. 76. 
Nicht minder zweifellos waren die einzelnen Staatsbürger bei thatsächlicher 
Beseitigung der behauptetermafsen verfassungsmälsigen Volksvertretung zur 
Erhebung der Verfassungsstreitigkeit legitimiert. Die Berufung darauf, dafs 
die jetzige mecklenburgische Verfassung zur Zeit des norddeutschen Bundes 
in anerkannter Wirksamkeit gestanden habe, war eine politische Ausflucht. 
Vgl. Bericht der Petitionskommission, Reichstag 1869 Anlagen S. 515. 
9 So Oldenburg a. 209.
	        
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