Full text: Deutsches Staatsrecht. Erster Band: Die Grundlagen des deutschen Staates und die Reichsgewalt. (1)

574 II. Buch. Die Reichsgewalt. 
Einzelstaate gegenüber übernommen worden wäre und dieser sich der 
Sache seiner Unterthanen als des eigenen Rechtes annähme!, 
Ausgeschlossen endlich sind solche Streitigkeiten zwischen Einzel- 
staaten, in welchen die Art und der Umfang zu erfüllender Bundes- 
pflichten oder das Anieilsverhältnis an deren Erfüllung in Frage steht. 
Denn hier ist die Streitigkeit nur der Anlafs, welcher das Reich be- 
rechtigt und verpflichtet, auf Grund der R.V. a. 9 und damit unab- 
hängig von den Anträgen der Parteien über die Erfüllung der Bundes- 
pflichten zu befinden ?. 
II. Abgesehen von diesen begrifflichen Ausscheidungen trifft die 
Bestimmung der Verfassung alle und jede Staatenstreitigkeit 
ohne Ausnahme. 
Sie trifft solche Streitigkeiten, welche unter den Einzelstaaten ein 
privatrechtliches Verhältnis erzeugt haben, wie auch diejenigen, welche 
durch die staatliche Natur der Beteiligten bedingt sind. Und für die 
letzteren ist es vollkommen gleichgültig, ob sie das Recht oder den 
Besitzstand betreffen, ob sie sich auf Verträge oder auf sonstige Rechts- 
titel stützen, ob sie im Sinne der Unterscheidungen, welche bei dem 
Austrägalverfahren des deutschen Bundes behauptet wurden, sich als 
Rechts- oder als Interessenstreitigkeiten qualifizieren, ob der Anspruch 
obligatorischer oder, wie bei Grenz-, Territorial-, Staatsservitutensachen, 
dinglicher Art ist; selbst solche Fälle sind darunter begriffen, in denen 
der eine Staat durch sein beleidigendes Verhalten den Anspruch des 
anderen auf Genugthuung und Sühne begründet hat. 
Die Unterscheidungen, welche R.V. a. 76 al. 1 unter den ver- 
1 Eine Kompetenz zur Entscheidung solcher Streitigkeiten durch das 
Reich kann nicht, wie Laband, Staatsrecht I 250 will, auf R.V. a. 77 ge- 
stützt werden. Denn der in Frage stehende Fall konstruiert sich in seiner 
Eigentümlichkeit gerade dadurch, dafs keine Justizverweigerung vorliegt, dafs 
vielmehr „nach der Verfassung und den bestehenden Gesetzen des betreffen- 
den Bundesstaates“ entweder die gerichtliche Entscheidung unmöglich oder 
der Rechtsweg verweigert werden kann. Aber auch der a. 76 al. 1 ist, wenn 
nicht die oben gemachte Voraussetzung zutrifft, unanwendbar. Denn der An- 
spruch eines Privaten gegen einen Einzelstaat wird dadurch nicht in einen 
Anspruch des einen Staates gegen den andern verwandelt, dafs jeder von 
ihnen die Zahlungsverbindlichkeit ganz oder zum geforderten Teil ablehnt, 
ohne seinerseits ein eigenes Recht auf die Zahlung durch den andern Staat 
behaupten zu können oder zu wollen. Es liegt hier im Vergleich mit a. 30 
der Wiener Schluflsakte eine Lücke des Reichsrechtes vor. 
2 So z.B. die Streitigkeit zwischen Preufsen und Grofsherzogtum Hessen 
über das Besteuerungsrecht gewisser Beamten nach Mafsgabe des $ 4 des 
Gesetzes über Doppelbesteuerung vom 13. Mai 1870, Bundesratsprotokolle 1872 
21. Juni $ 390 u. Anlage No. 9%.
	        
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