Full text: Deutsches Staatsrecht. Erster Band: Die Grundlagen des deutschen Staates und die Reichsgewalt. (1)

$ 96. Die zwischenstaatliche Friedensbewahrung. 577 
allgemeinen Rechtsgrundsatzes auch für Staatenstreitigkeiten zu be- 
haupten, dafs ein im voraus abgeschlossenes Kompromifs einen von 
der Sache selbst untrennbaren, den materiellen Gehalt des Rechts- 
verhältnisses modifizierenden Anspruch jeder Partei dahin begründet, 
dafs vor dem Schiedsgericht Recht genommen werde. Und hierbei, 
sofern es sich nicht um eine Privatrechtssache handelt?, ist es gleich- 
gültig, ob das Kompromifs sich auf ein bestimmtes Rechtsverhältnis 
und die aus demselben entspringenden Rechtsstreitigkeiten oder ob es 
allgemein sich auf alle oder auf gewisse Gattungen der Rechtsstreitig- 
keiten unter den kompromittierenden Parteien bezieht, ob dasselbe 
neuen Datums ist oder ob es unter die durch die Wiener Schlulsakte ® 
ausdrücklich aufrecht erhaltenen „früheren Familien- und Vertrags- 
austräge“ fällt”. Auch in allen diesen Fällen kann die Erledigung 
durch das Reich selbst nur insofern und insoweit Platz greifen, als es 
sich um die Unterwerfungspflicht unter das Kompromils oder um die 
Vollstreekung des Schiedsspruches handelt. 
V. Wenn hiernach die Kompetenz des Reiches zur eigenen Er- 
ledigung von Staatenstreitigkeiten in einem gewissen Umfange nur 
eine subsidiäre ist, so enthält doch nach Wortlaut und Sinn R.V. 
a. 76 al. 1 die unbedingte Pflicht der Einzelstaaten, alle 
und jede Staatenstreitigkeit nur in den Wegen Rechtens auszutragen, 
welche daselbst angeordnet oder zugelassen sind. 
Allerdings ist für die eieene Erledigung des Reiches das „An- 
rufen eines Teiles“ ausdrückliche Bedingung. Aber sie ist es nur in 
dem Sinne, dafs das unmittelbare Eingreifen des Reiches insofern und 
insoweit cessiert, als das bürgerliche Gericht oder ein Schiedsgericht 
kompetent ist oder als auf die Verfolgung des streitigen Anspruches 
überhaupt verzichtet wird. In jedem anderen Falle ist das „Anrufen“ 
verfassungsmälsige Pflicht. Jede Art der Eigenmacht, der Selbsthilfe 
unter den Einzelstaaten ist Verletzung der durch R.V. a. 76 al. 1 
begründeten Bundespflicht. Das Reich ist berechtiet und verpflichtet, 
der Verletzung derselben nach Mafsgabe der R.V. a. 19 von Amts 
wegen entgegenzutreten, also „vor allem für die Aufrechterhaltung des 
Besitzstandes Sorge zu tragen“ ®. 
> Vgl. Civilprozefsordnung $ 852. 
6 Art. 24. Vgl. Heffter, Beiträge zum deutschen Staats- und Fürsten- 
recht S. 203 ff., insbes. Anm. 29. 
? Auf Grund der völkerrechtlichen Stellung der Einzelstaaten im Reich 
ınufs allerdings jeder Kompromils auf eine auswärtige Macht, ja selbst die 
Annahme der Vermittelung einer solchen als ausgeschlossen gelten. 
8 Wiener Schlufsakte a. 19. 
Binding, Haıdbuch. V. 1: Hänel, Staatsrecht. I. 37
	        
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