8 108. Die historische Grundlage. 643
II. Auf den Rechtsbestand, wie er mit dem allen in seinen
wesentlichen Grundlagen charakterisiert ist, stiels die norddeutsche
Bundes- und die deutsche Reichsverfassung. Wenn dieselbe über die
allgemeine Kompetenz der Gesetzgebung und Beaufsichtigung hinaus
dem Reiche besondere Befugnisse der Vollziehung auf dem Gebiete
des Eisenbahnwesens einräumt, so war deren Richtung im allgemeinen
vorgeschrieben. Es galt einmal, die in dem Einzelstaate notwendige
Diskrepanz beseitigend, in dem Reiche die höhere Aufsichtsinstanz zu
gewinnen, welche über den Privat- und Staatsbahnen zu gleichem
Rechte stand. Es galt sodann, die in allmählicher historischer Ent-
wicklung gewonnene Einheitlichkeit im Eisenbahnwesen, unabhängig
von den vertragsmälsigen Beliebungen der Einzelstaaten untereinander
und der Privat- und Staatsbahnen in den Vereinen und Verbänden,
durch die Reichskompetenz festzuhalten und weiter zu entwickeln.
Aber aus jenem Rechtszustande ergab sich auch, dafs die unmittelbar
eingreifenden Vollziehungsrechte des Reiches auf enge Grenzen an-
gewiesen waren, die durch die im Partikularrechte begründete
privatrechtliche Autonomie der Privatbahnen gezogen wurden, und
die auch den Staatsbahnen gegenüber um der gewichtigen, den privat-:
wirtschaftlichen mindestens gleichwertigen finanziellen Interessen willen
als gültig anerkannt werden mulsten. Und gerade dies, der Umstand,
dafs die Ermächtigungen des Reiches gegenüber den Staatseisenbahn-
verwaltungen ihren begrenzenden Malsstab vielfach nur in der Rechts-
stellung der Privatunternehmungen finden, ist es, der die Fest-
stellung der ursprünglichen Tragweite der einschlagenden Verfassungs-
bestimmungen erforderlich macht, obgleich die thatsächliche
Voraussetzung derselben vielfach durch die Vorherr-
schaft des Staatseisenbahnsystemes seit der Wendung
der preulsischen Eisenbahnpolitik® verschoben worden ist.
Auf dieser allgemeinen Grundlage :nun aber sind die unmittelbar
wirksamen Rechte, welche dem Reiche im einzelnen durch Ab-
schnitt VII der R.V. beigelegt werden, je nach der Verschiedenheit
ihres Gegenstandes in verschiedener und zwar in dreifacher Weise
charakterisiert: als Verpflichtungen der Regierungen der
Einzelstaaten, als Verpflichtungen der Eisenbahnver-
waltungen schlechthin und alseinwirkende Kontrolle. Es be-
darf ihrer gesonderten Betrachtung.
6 Der Wendepunkt wird bezeichnet durch das preufsische Gesetz vom
4. Juni 1876 behufs Ermächtigung der Staatsregierung, die Eigentums- und
sonstigen Rechte des Staates an Eisenbahnen auf das Deutsche Reich zu
übertragen, und durch das Scheitern dieses Planes.
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