716 II. Buch. Die Reichsgewalt.
eigentümlichen und erschöpfenden* Weise, hat die Schweiz durch
ihre Bundesverfassung — aa. 116—114 — , insbesondere seit deren
Revision von 1874, das Bundesgericht organisiert. Dasselbe ist —
auch hier abgesehen von der Zuständigkeit in Straf- und Civilsachen
— zur Entscheidung berufen in allen interkantonalen Streitigkeiten,
in Kompetenzkonflikten zwischen Bundesbehörden und Kantonalbehör-
den, sowie — vorbehaltlich der sog. Administrativstreitigkeiten — in
Beschwerden über die Verletzung solcher Rechte, welche durch die
Bundesverfassung oder eine Kantonalverfassung, durch
Konkordate? oder Staatsverträge gewährleistet sind.
Aber auch in der Geschichte der Einheitsbestrebungen in Deutsch-
land nimmt die Institution eines Bundesgerichtes die nämliche ent-
scheidende Bedeutung ein, wie in der Verfassungsentwickelung jener
Länder.
Auf dem Wiener Kongrels, als es sich um die Beratung und
Feststellung der künftigen Verfassung Deutschlands handelte, hält der
Plan zur Errichtung eines ständigen Bundesgerichtes mit der Kompe-
tenz für die organischen Rechtsstreitiekeiten des Bundes
und seiner Glieder, seine Abschwächung und seine Beseitigung voll-
kommen gleichen Schritt mit der Behauptung, der Abschwächung und
dem Scheitern der strafferen, über eine lose Föderation hinausliegenden
Einigung. Gleich der erste „Entwurf der Grundlagen der deutschen
Bundesverfassung“ ®, wie er im Juli 1814 aus den Beratungen Steins,
Hardenberes, Solms-Laubachs hervorgegangen war, forderte ein stän-
diges Bundesgericht in Frankfurt a. M. Auch die unter Metternichs
Mitwirkung festgestellten 12 Artikel, welche dem „deutschen Komite“
am 16. Oktober unterbreitet werden, halten daran fest”. In jener
Zeit alsdann, wo die Wirren der polnisch-sächsischen Frage die Be-
ratungen der deutschen Verfassung von der Tagesordnung verschwinden
lassen, nehmen die zwei preulsischen Entwürfe Humboldts vom Februar
1815® den Plan des ständigen Bundesgerichtes in einer alle wesent-
lichen Grundzüge erschöpfenden Durcharbeitung wieder auf. Denn
* Insbesondere steht dem Bundesgericht nicht, wie in Amerika, die
Prüfung der Verfassungsmäfsigkeit der von der Bundesversammlung erlassenen
Gesetze, allgemein verbindlichen Beschlüsse und genehmigten Staatsverträge
zu. Bundesverf. a. 113 al. 3.
5 Das sind solche Verträge der Kantone untereinander, welche die gemein-
schaftliche Ordnung einzelner Verwaltungsgegenstände, die aufserhalb der
Bundeskompetenz liegen, herbeiführen.
6 Klüber, Akten des Wiener Kongresses I,ı 45. Pertz, Stein IV 49.
” Klüber, Akten J, ı 57. s Klüber, Akten II 18ff. und 55 ff.