$ 126. Die Beaufsichtigung des Reiches (Justizverweigerung). 743
Privat- und Strafrecht zu. Aber während auf jedem anderen Gebiete
der Reichskompetenz das Recht der Beaufsichtigung das verfassungs-
mälsige Mittel bildet, um die Einheitlichkeit der einzelstaatlich-par-
tikularisierten Durchführung der Reichsgesetzgebung zu verbürgen, tritt
auf dem Gebiete des Civil- und Strafprozesses der Grundsatz der Un-
abhängiskeit der Gerichte dazwischen, welcher der Justizverwaltung
jede Einwirkung auf den Inhalt der Rechtsprechung, und damit dem
Reiche auf die übereinstimmende Handhabung des Rechtes durch die
landesherrlichen Gerichte entzieht. Der verfassungsmälsig geforderten
Einheitlichkeit des Rechtes steht unvermittelt die nicht minder ver-
fassungsmälsige Partikularisierung der Rechtsprechung durch Behörden
gegenüber, an welche die Aufsichtsinstanz des Reiches nicht heranreicht,
Dieser Widerspruch konnte eine Lösung, die mangelnde Kraft
der Beaufsichtigung ein Äquivalent nur finden in einer eigenen Ge-
richtsbarkeit des Reiches, welche die verfassungsmälsige Gerichtsbarkeit
der Einzelstaaten soweit beschränkte, als dies die Aufrechterhaltung
der Einheitlichkeit des Privat-, Straf- und Prozelisrechtes forderte.
Hierzu aber bedurfte es — selbstverständlich soweit Specialklauseln
der R.V. dem Reiche nicht bereits eine eigene Gerichtsbarkeit auf
einzelnen Rechtsgebieten zugesprochen hatten — einer Änderung
der Verfassung. Zwar mochte man mit vollem Rechte sagen,
dafs dieselbe als eine politische Notwendigkeit sich darstelle, ja dals
sie nur eine folgerichtige Entwickelung dessen sei, was in der Be-
aufsichtigung des Reiches angelegt und der Absicht nach enthalten
sein müsse. Allein die Verfassung selbst hatte der inneren Nötigung
eine rechtliche Grundlage nicht gewährt‘. Dieselbe konnte vielmehr
nur durch eine Erweiterung der ursprünglichen verfassungsmälsigen
Kompetenz gewonnen werden.
Das ist bereits zur Zeit des norddeutschen Bundes geschehen.
Gleichzeitig mit der Erhebung des deutschen Handelsgesetzbuches
und der deutschen Wechselordnung zu Reichsgesetzen’, wurde unter
6 Es ist unrichtig, zu sagen — Laband, Staatsrecht d. d. Reiches II 323 —,
dafs die Reichsverfassung über die Errichtung eines Reichsgerichtes nur ge-
schwiegen habe, dafs daher das Gesetz vom 12. Juni 1869 keine Abänderung
der Sätze enthalte, „welche die Verfassung des norddeutschen Bundes ausdrück-
lich ausspricht“. Denn auch für das gerichtliche Verfahren, bürgerliches Recht
und Strafrecht schreibt die norddeutsche Verfassung dem Reiche ausdrücklich
nur die Beaufsichtigung und Gesetzgebung zu. Jede eigene Gerichtsbarkeit
des Reiches ist aber nicht nur Beaufsichtigung über vollziehende Funktionen
der Einzelstaaten, sondern immer die der Rechtspflege eigentümliche Voll-
ziehung selbst.
? Gesetz vom 5. Juni 1869.