746 II. Buch. Die Reichsgewalt.
I. Das Reichsgericht ist entstanden in Ausführung der General-
klausel der R.V. 4,ı.. Dem Inhalt derselben entsprechend ist der
grundsätzliche Umfang seiner Gerichtsbarkeit bestimmt. Es
ist Gerichtshof für bürgerliches und Strafrecht, für Civil-
(Konkurs-) und Strafproze[s. Aber wie das Reich aktuell seine
Gesetzgebung über das gerichtliche Verfahren beschränkt auf die
ordentliche Gerichtsbarkeit, so ist die Grundstellung des Reichs-
gerichtes darauf beschränkt, Gerichtshof für bürgerliche Rechtsstreitig-
keiten und Strafsachen im Umfange der ordentlichen Ge-
richtsbarkeit zu sein.
Das Reichsgericht ist daher nicht dazu bestimmt, ein Gerichtshof
für das der Reichsgesetzgebung unterliegende öffentliche Recht?
zu sein. Gewils ist das Reich seiner formalen Kompetenz nach befugt,
da, wo es überhaupt zu einer eigenen Rechtsprechung im Gebiete
des öffentlichen Rechtes ermächtigt ist oder wird, dieselbe dem
Reichsgerichte zu übertragen. Es ist dies auch in einzelnen Fällen
geschehen: für die Klage des Reichskanzlers oder des Einzelstaates
auf Entziehung der Befugnis zur Banknotenausgabe®?, für die Klage
gegen rechtswidrige Belastung mit Reichsstempelabgaben*, für die
Hamburger Verfassungstreitigkeiten®. Allein es sind dies einzelne,
zufällige Ansätze an den Kern der Reichsgerichtskompetenz , welche
bisher eine grundsätzliche Bedeutung nicht erlangt haben.
Das Reichsgericht ist fernerhin nicht dazu bestimmt, als Gerichts-
hof in solchen bürgerlichen Rechtsstreitigkeiten und Strafsachen zu
fungieren, welche nach Malsgabe der Justizgesetze den landesherr-
lichen besonderen Gerichten, Verwaltungsbehörden oder Verwaltungs-
gerichten vorbehalten sind. Hier bleibt grundsätzlich die volle und
ungebrochene Gerichtsbarkeit der Einzelstaaten in Geltung. Trotzdem
ist dem Reichsgerichte für einzelne, hier einschlagende Fälle eine ge-
‘wisse Zuständigkeit eingeräumt worden. So erwächst dem Reichs-
gerichte die Entscheidung der landesgesetzlich zu einem besonderen
Verfahren verwiesenen Vorfrage, ob ein Beamter sich einer Über-
schreitung seiner Amtsbefugnisse oder der Unterlassung einer ihm ob-
liegenden Amtshandlung schuldig gemacht hat, dann, wenn in dem
betreffenden Einzelstaat ein oberster Verwaltungsgerichtshof nicht be-
2 Das Strafrecht hier immer als besonderer Rechtsteil gefafst.
8 8 50 des Bankgesetzes vom 14. März 1875.
* Reichsstempelgesetz, Redaktion vom 3. Juni 1885 $ 32.
5 Gesetz vom 14. März 1831.