Full text: Deutsches Staatsrecht. Erster Band: Die Grundlagen des deutschen Staates und die Reichsgewalt. (1)

8 127. Das Reichsgericht. 155 
mulste, den gesetzgeberischen Verhandlungen, welche die Frage der 
Gerichtsorganisation zum Mittelpunkt hatten, widerspricht nicht minder 
die andere Annahme, dafs das Reich fortan ohne jede verfassungs- 
mälsige Schranke zu eigener Ausübung der Privat- und Strafrechts- 
pflege berufen sei, dafs es schlechthin eine Frage der einfachen 
Gesetzgebung sei, in welchem Umfange die Gerichtsbarkeit der Einzel- 
staaten beschränkt oder aufgehoben werde, dals mithin die Einzel- 
staaten ein verfassungsmälsiges Recht auf eine eigene Privat- 
und Strafrechtspflege nicht mehr besitzen. 
Es bleibt daher nur die dritte Annahme: die grundsätzliche 
Stellung des Reichsgerichtes, wie sie durch die Reichsjustizgesetze 
bestimmt ist, ist zugleich Grundsatz der Kompetenz, der die Stellung 
des Reiches gegenüber den Einzelstaaten abgrenzt. Jene grundsätzliche 
Stellung läfst sich aber als Grundsatz für die verfassungsmälsige Kom- 
petenz nur dahin ausdrücken: die Organisation und Vollziehung der 
deutschen Privat- und Strafrechtspflege erfolgt durch das 
planmälsige Zusammenwirken der Reichsgerichtsbarkeit mit den landes- 
herrlichen Gerichtsbarkeiten und zwar in der Abgrenzung, dals die 
Gerichtsbarkeit des Reiches dazu bestimmt, aber auch darauf be- 
schränkt ist, die Einheitlichkeit des gemeinen Privat-, Straf- und 
Prozefsrechtes in der durch die Einzelstaaten zu vollziehenden 
Rechtspflege aufrecht zu erhalten ®>. 
Und so ergiebt sich auf diesem Gebiete die höchst eigentümliche 
Erscheinung, dafs ein Satz als Verfassungssatz angesprochen werden 
mufs, der nicht nur in dem gegenwärtigen Texte der R.V. nicht ent- 
halten ist, sondern demselben geradezu widerspricht, ein Satz, der 
überhaupt nur durch Deduktion gewonnen werden kann und überdies 
nur durch Deduktion aus gesetzlichen Detailbestimmungen, deren jede 
für sich genommen nur auf die Bedeutung einfacher Gesetze An- 
spruch machen kann. Ein so künstlich gewonnener Satz hat in jedem 
einzelnen Falle den Maisstab zu bilden, ob eine Änderung der 
deutschen Justizverfassung im Wege der einfachen Gesetzgebung 
oder nur unter den Formen der Verfassungsänderung vorgenommen 
werden kann. | 
°5 Mit Recht ging daher die preufsische Regierung von der Auffassung 
aus, dals die Übertragung der Diseiplinargerichtsbarkeit über richterliche 
Beamte Preufsens an das Reichsgericht eine verfassungsändernde Erweiterung 
der Reichskompetenz enthalten würde. Kommissionsbericht, betreffend das 
Gesetz über Abänderung der Disciplinargesetze, Anlage No. 197 zu den Ver- 
handlungen des preufsischen Abgeordnetenhauses 1878/79. 
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