172 II. Buch. Die Reichsgewalt.
rungen der Reichskompetenz erfolgen können, insbesondere ob und
in welchen Formen das Reich berechtigt ist, einseitig kraft seiner
Autorität Kompetenzerweiterungen herbeizuführen, das Grundverhältnis
zwischen dem Reiche und den Einzelstaaten. Es ist dies nach einem
zur. Zeit des norddeutschen Bundes ausgeprägten Sprachgebrauche
die Frage nach der „Kompetenz-Kompetenz“ des Reiches.
Ein Vergleich des heutigen Rechtsbestandes der Reichskompetenz
mit den Bestimmungen der norddeutschen Verfassung und der Reichs-
verfassung in ihrem ursprünglichen Bestande ergiebt, dafs. die Grenzen
und der Inhalt derselben eingreifende Veränderungen erlitten haben.
Das Reich hat nicht nur einzelnen Bestimmungen, wie der Klausel
über das Versicherungswesen eine Tragweite verliehen, die weit hinaus
liegt über die Berechnung der verfassungsgebenden Faktoren, sondern
es hat das Übergewicht seiner Macht zu einer wesentlichen Erwei-
terung seiner Befugnisse gestaltet.
Die Erweiterungen treffen die „Angelegenheiten“, die
seinen materiellen Wirkungskreis bilden. So erfolgte gleichzeitig mit
der Feststellung der Reichsverfassung die Ausdehnung auf die Be-
stimmungen über die Presse und das Vereinswesen, so durch be-
sondere Zusatzgesetze zur Verfassung vom 3. März 1873 die Aus-
dehnung auf die Seeschiffahrtszeichen und vom 20. Dezember 1873
auf das gesamte bürgerliche Recht, so durch schlichte, aulserhalb des
Verfassungstextes stehende Gesetze, insbesondere auch die Budget-
gesetze, die Ausdehnung auf die Malsregeln gegen die Reblaus, auf
mannigfache Unterstützungen und Einrichtungen für die Zwecke der
Kunst und Wissenschaft.
Die Erweiterungen treffen aber auch in besonders weitem Um-
fange die Regierungsrechte des Reiches gegenüber den grund-
sätzlichen Bestimmungen der R.V. a. 4. Sie finden ihren Ausdruck
in der Errichtung des Reichsgerichtes und einer Anzahl von Ver-
waltungsgerichtshöfen, in der Schaffung reichsunmittelbarer Körper-
schaften, in der Einsetzung wahrer Centralbehörden, wie in einzelnen
Mafsregeln unmittelbarer Verwaltung auf Gebieten, die ursprünglich
nur der Beaufsichtigung und Gesetzgebung des Reiches unterlagen.
Diese Entwickelung des Reiches, die überall in der Richtung einer
Erweiterung und nirgends in der einer Beschränkung seiner Kompe-
tenz erfolgte, findet in allen übrigen Bundesstaaten ihr Gegenbild.
Allerdings eine unvergleichliche Stetigkeit hat die Unionsver-
fassung von Amerika behauptet. Die Verfassungsamendements
I—XI aus den Jahren 1789 und 1798 haben nur die Bedeutung von
Grundrechten, welche der Unionsgewalt Schranken ziehen sollen,