Full text: Deutsches Staatsrecht. Erster Band: Die Grundlagen des deutschen Staates und die Reichsgewalt. (1)

774 II. Buch. Die Reichsgewalt. 
hat die doppelte Tragweite einer Ermächtigung und einer Vor- 
schrift. 
I. Die Ermächtigung trifft alle Verfassungsänderungen, ein- 
schliefslich der Bestimmungen über die Kompetenz. 
Dies ergiebt der allgemeine Sprachgebrauch. 
Nimmt man das Wort „Verfassung“ im materiellen Sinne als die 
Regelung des Grundverhältnisses, in welches Organe und Mit- 
glieder eines Staatswesens gesetzt sind, um seine Funktionen und Auf- 
gaben versehen und erfüllen zu können, so fällt unter diesen Begriff 
für jeden Bundesstaat vor allen andern die Summe der Bestimmungen, 
welche die Wirkungskreise der zentralisierten und der dezentralisierten 
Staatswesen gegeneinander abgrenzen und die Art und Weise ihres 
Zusammenwirkens feststellen. 
Nimmt man das Wort im formellen, positivrechtlichen Sinne als 
die Summe der rechtlichen Bestimmungen, denen man in einer ge- 
gebenen historischen Entwickelung eine besondere und an oberster 
Stelle malsgebende Bedeutung für das gesamte Staatsleben beimilst 
und die man eben darum in einer besonderen, von dem übrigen 
öffentlichen Rechtsstoffe sich abhebenden Gesetzesurkunde zusammen- 
fast, so sind auch die Bestimmungen über die Kompetenz der be- 
sonderen Gesetzesurkunde einverleibt, die vor allem Texte die Über- 
schrift trägt: „Verfassung des deutschen Reiches“ und die alsdann in 
ihrer Einleitung die einzelnen Abschnitte und Artikel die „nach- 
stehende Verfassung“ nennt. 
Trotzdem war die Unterstellung der Kompetenzänderungen unter 
die Verfassungsänderungen zur Zeit des norddeutschen Bundes 
bestritten. In einem lebhaft geführten litterarischen Schriftenwechsel ! 
ist damals die Behauptung verfochten worden, dals insbesondere eine 
Erweiterung der Bundeskompetenz nicht im Wege der Bundesgesetz- 
gebung, sondern nur durch die freie, vertragsmälßsige Einigung aller 
Einzelstaaten unter verfassungsmälsiger Mitwirkung der Einzellegis- 
laturen bewirkt werden könne. Sie konnte den erforderlichen Beweis, 
1 Gegen die Kompetenz-Kompetenz: Böhlau, Kompetenz-Kompetenz ? 
1869; H. A. Zachariä, Die Verfassungsänderung nach a. 78 der nordd. 
Bundesverf., 1869; Böhlau, Replik zur Kompetenz- Kompetenz? 1870; G. 
Meyer, Grundzüge S. 54, 1868; Keller, Der nordd. Bund, 1870, S. 390. 
Für die Kompetenz-Kompetenz: „Die Kompetenz des nordd. B. aus a. 78 der 
Bundesverf.“, 1870; Thudichum, Verfassungsrecht d. nordd. B. S. 85 fl.; 
v. Martitz, Betrachtungen S. 10; Hiersemenzel, Die Verf. d. nordd. B. 
S. 34; v. Rönne, Preufsisches Staatsr., 3. Aufl., 8 209; Seydel, Kommentar 
S. 260 ff.
	        
Waiting...

Note to user

Dear user,

In response to current developments in the web technology used by the Goobi viewer, the software no longer supports your browser.

Please use one of the following browsers to display this page correctly.

Thank you.