1780 II. Buch. Die Reichsgewalt.
gleich die Vorschrift, dafs jede Änderung der Verfassung zu er-
folgen habe „im Wege der Gesetzgebung“, d.h. in den Formen,
wie sie durch aa. 2 und 5 im allgemeinen festgesetzt und durch
a. 78 mit besonderen Erschwerungen verbunden sind.
Daraus folgt, dals ein Ersatz der vorgeschriebenen Formen, eine
Verwechselung derselben mit einer anderen Form staatlicher” Rechts-
erzeugung nur in den Fällen zulässig ist, in welchen anderweitige,
gleichwertige Bestimmungen der Verfassung selbst dies zulassen.
Das ist aber ausschlielslich in zwei Fällen erfolgt.
1. Ein völkerrechtlicher Vertrag mit fremden Staaten, zu dessen
Schliefsung der Kaiser nach R.V. a. 11 ohne jede Beschränkung seines
Inhaltes ermächtigt ist, kann auch die Verfassung und die Kompetenz
des Reiches berühren, sei es, dafs dies unmittelbarer Gegenstand seiner
Dispositionen ist oder dafs seine Durchführung Änderungen jener vor-
aussetzt. Die verfassungsmälsige Gültigkeit solcher Verträge kann
hier in einer doppelten Form bewirkt werden: entweder werden die-
selben nach Malsgabe der R.V. a. 11 zunächst der Zustimmung des
Bundesrates und alsdann der Genehmigung des Reichstages unter-
breitet oder die zur Durchführung des Vertrages erforderlichen Ver-
fassungsänderungen erfolgen in besonderen Gesetzen ®.
2. Einen zweiten Fall bilden die Bestimmungen der Reichsver-
fassung über die Rechte der Einzelstaaten auf die Patronage zu ge-
wissen Stellen der Post- und Telegraphenverwaltung nach a. 50, auf
die ihnen nach a. 66 in der Heeresverwaltung vorbehaltenen Funk-
tionen und auf die Freihafenstellung nach a. 34. Allerdings sind hier-
durch der Kompetenz des Reiches Grenzen gezogen, aber nicht im
Sinne einer objektivrechtlichen Beschränkung, sondern in dem
anderen Sinne, dafs dadurch den Einzelstaaten subjektive Rechte als
'wohlerworbene durch die Verfassung zugesichert sind. Dieselben sind
daher verziehtbar. Und dieser Verzicht kann insbesondere erfolgen
? Ob und wieweit die aufserstaatliche Rechtserzeugung, das Gewohn-
heitsrecht, selbst gegenüber einer Vorschrift der Verfassung, wie sie a. 78
enthält, rechtsgültig platzgreifen kann, ist allerdings damit nicht entschieden.
Die Erörterung dieser Frage bleibt der Lehre von der Gesetzgebung als
Funktion vorbehalten.
8 Für Ersteres bildet das hervorragendste Beispiel zur Zeit des nord-
deutschen Bundes der Zollvereinsvertrag von 1867 und die süddeutschen Ver-
fassungsverträge, für das Zweite der französische Friedensvertrag rücksichtlich
der Erwerbung Elsafs-Lothringens. In beiden Fällen ist unzweifelhaft und
unbezweifelt im Bundesrate die zu Verfassungsänderungen erforderliche Ma-
jorität geboten. Laband, Staatsr. d. d. R. I 661 ff.