Full text: Deutsches Staatsrecht. Erster Band: Die Grundlagen des deutschen Staates und die Reichsgewalt. (1)

788 H. Buch. Die Reichsgewalt. 
Ausschlusse jeder Mitwirkung der Einzelstaaten als solcher tritt 
die weitere Eigentümlichkeit hinzu, dafs die Reichsverfassung alle 
erschwerenden Formen der verfassungsändernden Gesetzgebung nur 
in den einen der beiden legislativen Faktoren verlegt, in einen Ab- 
stimmungsmodus des Bundesrates. Und diese Eigentümlichkeit ist 
dadurch verschärft, dafs der Text des Art. 78 nicht mehr, wie noch 
in der norddeutschen Verfassung, die Forderung der gesteigerten 
Majorität positiv, sondern in einem gewissen Sinne negativ zum 
Ausdruck bringt: „Sie — die Verfassungsänderungen — gelten als 
abgelehnt, wenn sie im Bundesrate 14 Stimmen gegen sich 
haben“ ©. 
Hierdurch ist die Möglichkeit einer doppelten Auslegung gegeben. 
1. Es kann der beabsichtigte Sinn des Verfassungstextes sein, 
dals die .gesteigerte Majorität nicht nur eine Vorschrift für die Ge- 
schäftsordnung des Bundesrates ist, sondern das unerlälsliche Er- 
fordernis für die Rechtsgültigkeit der Verfassungsänderung und bier 
der Kompetenzänderung. 
Bei dieser Auffassung bleibt der Bundesrat zunächst, d.h. mit 
verbindlicher Kraft für seine geschäftsordnungsmäfsige Behandlung 
berufen, die Entscheidung zu treffen und zwar mit einfacher Majorität, 
ob der Fall der Verfassungsänderung vorliegt oder nicht. Es wird 
ferner eine Vorlage des Bundesrates an den Reichstag und weiterhin 
die regelmälsige Publikation des Gesetzes die Präsumtion für 
sich haben, dafs die verfassungsmälsigen Formen eingehalten sind. 
Es wird endlich nicht zu bestreiten sein, dals die in zutreffenden 
Formen abgegebene Erklärung des Bundesrates, geschweige die Be- 
urkundung im Gesetzestexte über die Einhaltung der verfassungs- 
mäfsigen Formen die Kraft eines unanfechtbaren Zeugnisses besitzt. 
Allein mit dem allen hat die Thatsache, dafs die Formen der Ver- 
fassungsänderung im Bundesrate nicht eingehalten sind, obwohl der 
Inhalt des Gesetzes dies fordert, ohne weiteres die Folge, dals das 
hiernach verfassungswidrige, insbesondere kompetenzwidrige Gesetz? 
rechtsungültig schlechthin ist. 
Die Rechtsungültigkeit ist hier nicht bedingt durch die recht- 
zeitige Erhebung eines Widerspruches oder durch die Kontestation 
eines beteiligten legislativen Faktors. Sie berechtigt jedermann, auch 
die Einzelstaaten, das verfassungswidrige Gesetz als nichtig zu be- 
  
  
6 Positiv ausgedrückt sind damit bei vollbesetztem Bundesrat 45 Stimmen, 
d. h. 1!/s Stimmen mehr, als eine 34 Majorität zu Verfassungsänderungen ge- 
fordert. 
? Der Vertrag, wo er zulässig ist, s. $ 133, hier überall einbegriffen.
	        
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