Full text: Deutsches Staatsrecht. Erster Band: Die Grundlagen des deutschen Staates und die Reichsgewalt. (1)

$ 134. Die Formen der Kompetenz-Kompetenz etc. 1789 
handeln — selbstverständlich vorbehaltlich der Frage, wer in letzter 
Instanz den Streitfall rechtsverbindlich zu entscheiden hat. Sie ge- 
währt insbesondere den Gerichten das Recht und die Pflicht, das ver- 
fassungswidrige Gesetz in jedem ihrer Beurteilung unterliegenden Falle 
aufser Anwendung zu setzen. 
2. Aber auch die andere Auffassung ist möglich, dafs die Ein- 
haltung der besonderen Formen der Verfassungsänderung eine innere 
Angelegenheit des Bundesrates ist und zwar in einem doppelten Sinne: 
die Anordnung der verstärkten Majorität ist nicht sowohl 
eine Bedingung für die Rechtsgültigkeit des ganzen, auch aulfser- 
halb des Bundesrates verlaufenden gesetzgeberischen Prozesses, 
sondern nur die Gewährung eines Widerspruchsrechtes an eine 
14stimmige Minorität innerhalb des Bundesrates, bei dessen 
rechtzeitiger Erhebung die Schlulsziehung des Bundesrates auf 
Ablehnune lauten muls: 
die Entscheidung, ob der erhobene Widerspruch nach Mals- 
sabe des Inhaltes des Gesetzentwurfes verfassungsmäfsig begründet 
ist, wird in end- und gemeingültiger Weise durch den Bundesrat 
gefällt. 
Bei dieser Auffassung hat ein Gesetz, welches unangesehen 
seines Inhaltes rechtsgültig ist, auch dann volle Rechtseültigkeit, 
wenn es eine Verfassungsänderung enthält und die besonderen 
Formen des Art. 78 nicht gefunden hat. Alsdann steht dem Reichs- 
tage weder die Pflicht noch das Recht zu, eine Vorlage des Bundes- 
rates oder nachträglich das Gesetz für rechtsuneültig zu erklären; der 
Mangel der zutreffenden Form kann für ihn nur, wie jeder andere 
Umstand, Motiv für die Versagung seiner Zustimmung sein. Die 
Einzelstaaten sind nicht befugt, ein definitiv beschlossenes Gesetz als 
nichtig zu behandeln oder auch nur eine nachträgliche Kontestation 
seiner Rechtseültigekeit herbeizuführen. Insbesondere sind die Ge- 
richte nicht berufen, in eine Prüfung der Verfassungs- und Kom- 
petenzmälsigkeit eines Gesetzes einzutreten. 
Zweifellos ist es, dafs nur die erste Auffassung entspricht der 
äufseren Stellung der Vorschrift in dem Text der Verfassung selbst 
und nicht blofs in der Geschäftsordnung. des Bundesrates, dem 
inneren Gewichte, welches in jeder Staatsform der Änderung der Ver- 
fassung beiwohnt, insbesondere aber der alles andere überragenden 
Bedeutung, welche die verfassungsmälsigen Kompetenzbestimmungen 
für den Bundesstaat besitzen. 
Aber es ist nicht minder zweifellos, dafs die ununterbrochene 
Praxis der Reichsgesetzgebung die zweite Auffassung bekundet.
	        
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