Kreuzzeitung, Abgeordneten Frhrn. v. Hammerstein, war der Brief
an ein geheimes Konsortium und von da in die Spalten des Vor—
wärts gekommen. Ein seltener Fall, daß ein Privatbrief, der vor
einem Menschenalter geschrieben wurde, noch im Gedächtnis alter
Parlamentarier und Journalisten lebt! Und da er eremplarischen
Wert für gerissene Taktiker von robuster Moral besitzt, wird er es
wahrscheinlich noch hoch zu Jahren bringen. Zum besseren Ver-
ständnis ist es nötig, bis auf die Walderseeversammlung im Jahre
1887 zurückzugehen.
Der Hof= und Domprediger Stöcker fühlte sich nach den
Erfolgen, die er auf der Kanzel und in Volksversammlungen da-
vongetragen hatte, als Gottesmann berufen, die proletarischen Massen
der Großstadt zum positiven Christenglauben zurückzuführen. Er
war ganz ehrlich darin, daß er die Seelen der Armen und Not-
leidenden von der „naturalistischen“ Weltauffassung der Sozial=
demokratie abziehen und ihnen mit christlicher Liebe helfen wollte.
Er fand, daß die evangelische Kirche in Berlin nicht genug Organe
habe, um in den unteren Massen zu wirken, und begründete des-
halb die Berliner Stadtmission, die wider die das Vaterland und
den Staat bedrohenden Tendenzen neben der materiellen die geist-
liche Versorgung betreiben sollte. Unter diesen Tendenzen wurden
nicht nur die Bestrebungen der Sozialdemokratie, sondern auch
die liberale Theologie Ritschls, die das Berliner Stadtparlament
beherrschende Fortschrittspartei und nicht zuletzt die Börse und das
Judentun, verstanden. Von vornherein war also der religiösen
Hilfstätigkei: der Stadtmission reichlich viel Politik beigemischt. Am
28. November 1887 hielt Stöcker beim Grafen Waldersee eine Ver-
sammlung ab, an der Prinz Wilhelm und Gemahlin, die Minister
v. Puttkamer und v. Goßler, der Präsident des Reichstags v. Wedell-
Piesdorf, Abgeordnete der Rechten, Geistliche und Finanzleute teil-
nahmen. Prinz Wilhelm sprach sich nach dem Vortrag Stöckers
freundlich über den christlich = sozialen Gedanken aus. Weitere Mati-
neen beim Grafen Waldersee folgten nach. Der Kanzler Fürst Bis-
marck schöpfte Verdacht, daß sich eine orthodor-junkerliche Koterie
des künftigen Thronerben bemächtigen und der Kartellpolitik ein
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