schlug ihm sein konstitutionelles Gewissen. Er sagte: „Wenn der
Reichskanzler und der Ministerpräsident von Preußen zu gleicher
Zeit ihr Amt niederlegen, so ist es nach meiner Ansicht aus kon-
stitutionellen Gründen notwendig, daß das gesamte Ministerium
dem Monarchen seine Portefeuilles zur Verfügung stellt, ferner
auch deshalb, damit die Freiheit der Krone in ihren Entschließungen
gewahrt wird.“ Für eine Kabinettspolitik irgendwelcher Art war
er nicht zu haben. Als drei Jahre nachher eine Erhöhung des Ge-
halts des Kabinettschefs vom Abgeordnetenhause abgelehnt war
und Herr v. Lucanus den Schwarzen Adlerorden erhalten hatte,
schrieb Kardorff an seine Frau: „Der schwarze Adler wird von
den klaren Politikern als eine antikonstitutionelle Demonstration
begriffen.“ Für einen Verfassungskonflikt hätte ihn wahrschein-
lich auch sein Fraktionsgenosse Frhr. v. Stumm, der schärfste
Gegner der Sozialdemokratie, nicht gewinnen können. Den stärk-
sten Erfolg im Reichstag hatte der alte Kämpe, als er in einer
wirkungsvollen Klimar der Mehrheit am 23. März 1895 den
Vorwurf machte, daß sie mit der Verweigerung eines Dankes-
zeichens für den Reichsgründer das deutsche Parlament vor der
ganzen Welt lächerlich machen würde.
Der Führer der nationalliberalen Partei, Herr v. Bennig-
sen, war um vier Jahre älter und nicht mehr so beweglich wie Herr
v. Kardorff. Schon einmal, nach dem großen Wandel der Wirt-
schafts= und Parteipolitik des Fürsten Bismarck, hatte er sich
von den politischen Geschäften mißmutig zurückgezogen, was Kon-
stantin Rößler mit dem sonderbaren Einfall beklagte, daß Bennig-
sen als Minister des Innern der Melanchthon der politischen Re-
formation in Preußen hätte werden können. Auf seine alten Tage
wäre er sicherlich der Anwendung von Gewaltmaßregeln abhold ge-
wesen. Dafür bürgt ein weises Wort von ihm, das ich weiterhin
in anderem Zusammenhang anführen werde.
Auf der bürgerlichen Linken im Reichstag endlich führte
ein absterbendes Geschlecht kenntnisreicher, hochgebildeter Indivi-
dualisten (E. Richter, Bamberger, Barth, Alexander Meyer, Schra-
der, Rickert) das Wort, oft voll beißendem Sarkasmus, aber doch
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