Ein besseres gegenseitiges Verstehen kam mit dem Weltkrieg.
Erst heute können wir es ganz begreifen, wie verbitternd und auf—
reizend der Vorwurf der Vaterlandslosigkeit auf die Führer des
Arbeitervolks und auf dieses selbst wirken mußte. Erst heute können
wir auch die Dankesschuld ermessen, die allen Gegnern des Staats-
streichs unter den Staatsmännern und Politikern aus der Zeit der
großen inneren Reichskrisis gebührt. Zu diesen Gegnern gehörte
vor allem der dritte Kanzler, der greise Fürst Hohenlohe. In der
Behandlung der Umsturzgefahr ließ er sich nicht aus den Bahnen
des neuen Kurses drängen. Eine Aufzeichnung von ihm aus dem
Herbst 1895 (Denkwürdigkeiten II, S. 523) lautet: „Ich weiß,
daß eine Anzahl Politiker und hoher Streber darauf ausgehen, mich
bei Seiner Majestät zu diskreditieren. Sie wollen einen anderen
Reichskanzler und geben vor, daß es einer energischen Aktion be-
dürfe. Was können sie damit erreichen? Konf#ikt mit dem Reichs-
tage führt zu Auflösung und zu Neuwahlen, die zu einer Nieder-
lage der Regierung. Abermalige Auflösung und Staatsstreich führt
zum Konflikt mit den verbündeten Regierungen, zu Bürgerkrieg,
zu Auflösung des Deutschen Reiches. Denn das Ausland wird
nicht ruhig bleiben und sich einmischen, wenigstens Frankreich.
Meine Politik ist die, mit dem Reichstag auszukommen zu suchen.
Ich selbst gehe jeden Augenblick, wenn Seine Majestät jene Wege
beschreiten will.“ Fast genau so wie Graf Caprivil
Wer den dritten Kanzler nur nach den unglücklichen Ein-
drücken beurteilen wollte, die sein völliger Mangel an rednerischer
Begabung im Reichstag machte, würde seiner staatsmännischen Per-
sönlichkeit nicht gerecht. Sein Alter und seine politische Vergangen-
heit schützten ihn vor Ubereilung. Manches im laufenden Ge-
schäft, das die Aufmerksamkeit des Kanzlers verdiente, ließ er un-
tätig hingehen, aber in der schriftlichen Abwehr von Entschließungen,
die gefährlich waren, konnte er recht tapfer sein. Auch im Verkehr
mit dem Kaiser hielt er auf seine Kanzlerwürde. Die Stützen, auf
die er sich am meisten verließ, waren die Staatssekretäre und Mi-
nister Frhr. v. Marschall und v. Bötticher. Als diese sich von ihm
trennten, dachte er ernstlich an seinen Rücktritt, und es bedurfte
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