544 II, 11. Das letzte Regierungsjahr Kaiser Wilhelms I.
Auswuchs war, eine lleine Unebenheit zeigt. Diese Basis oder dieser Siumpf üt in einem Zustand
völliger Ruhe und zeigt weder Entzündung noch Nachwuchs.“ Ja, der „Reichsanzciger“ vom
2. September brachte eine von den englischen Arzien des Kranken selbst verfaßte Genesungsanzeige,
gegen deren lügenhasten Inhalt Dr. Landgraf schon vor seiner Abreise aus England protestiert,
darauf aber die Antwort erhalten hatie, „dast an derselben keine AÄnderungen mehr zulössig
seien“. Nur hatte Dr. Wegner der deutschen Ubersetzung noch die Worte hinzufügt: „Die Slimme
ist noch heiser.“ Ohne diesen Zusatz hätie man von der vollständigen Genesung völlig überzeugt
sein müssen. Namentlich war mit frechster Stirn das von Dr. Landgraf stetig beobachtete Wachs-
tum der Geschwulst in den Worten gelengnel: „Seit Juli hat eine neue Ausbildung der bis
dahin vorhandenen Anschwellung nicht staltgefunden.“
Jubelnd erwarteke Berlin die Rückkehr des endlich genesenen, geliebten Kron-
prinzen. Uberall bereitete es sich auf den festlichen Empfang vor. Da kam die erste
Enttäuschung. Der Kronprinz fuhr an Berlin vorüber. Der greise Kaiser hatle ihn
vergeblich erwartet. In Berlin wäre ja der ganze heillose und schamlose Trug, den ein
englischer Quacksalber mit dem Kaiser, mit dem Kronprinzen, mit den teuersten Hoff-
nungen und schwersten Befürchtungen des deutschen Volkes trieb, plötzlich enthüllt,
und der Arzt, welcher sich für die langsame, aber sichere, wissentliche Tötung des deut-
schen Kronprinzen etwa eine Million vom Reiche bezahlen ließ, auch der ihm gebüh-
renden Bestrafung nicht entgangen. Dagegen konntke jetzt die Mackenziesche Presse in
Jubelhymmnen berichten, „daß sich der Kronprinz in voller Kraft und Gesundheit in
Franlsurt gezeigt“ habe. Diese Presse verstand sogar auch die neuanstauchenden Be-
sorgnisse zu zerstrenen, welche die wohlbegründeten Gerüchte von anhaltender Heiser-
keit und einem Erstickungsanfall in Toblach, die plötzlich notwendig gewordene Uber-
siedelung nach Venedig, Baveno, Sau Remo veranlaßten. Deun die „bestunterrich-
tete Presse“ erklärte: „gerade das viele Herumreisen und der Aufenthalt in einer höheren
BVergluft sei der beste Beweis dafür, wie sehr die deutschen Arzte sich geirrt hälten“.
Aber die Nakur selbst, das unaufhaltsame Fortschreiten der Krankheit, zerriß
dieses beispiellose Lügengewebe. Denn die derart beruhigte Welt wurde Ansang No-
vember urplötzlich durch die Schreckenskunde überraschk, Mackenzie sei schleunigst aus
England nach San Remo berufen worden, habe die Krankheit für bösartig erklärt
und alsbald die Hinzuziehung noch anderer Irzte verlangt. Der Kaiser sandte sofort
seinen Enkel, den Prinzen Wilhelm, nach San Remo. Dieser nahm in Franlfurk,
auf Anraten der Arzte des Kaisers, den Sanitätsrat Dr. Moritz Schmidt nach San
Nemo mit sich; von Berlin folgte der Privatdozent Dr. Krause; von Wien wurde
der berühmte Kehlkopfspezialist Professor Dr. Schrötter telegraphisch herbeigerufen.
Bei den gemeinsamen Untersuchungen und Beratungen aller dieser Arzte: Mackenzie,
Schrötter, Schrader, Krause, Schmidt und Hovell, wurde in den Tagen nom 9. bis
11. November in San Remo folgende Erklärug festgestellt und gemeinsam unter-
schrieben: „Die Versammelten sind vollkommen klar, daß es sich bei Sr. Kaiser-
lichen Hoheit um Krebs des Kehlkopses handelt.“ Die einzige noch mögliche Rettung, die
gänzliche Ansschneidung des Kehlkopfes, lehnte der Kronprinz, nachdem sich seine Ge-
mahlin mit allergrößter Cutschiedenheit dagegen ausgesprochen, mit derselben heileren
und heldenhaften Nuhe, mit welcher er den Todesspruch der Arzte entgegengenommen,