Wilhelm Kahl, Staat und Kirche. 95
und phrasenhaft wird diese Episode noch immer als „Kulturkampf“ weitergeführt. Nicht handelte
es sich dabei um einen Kampf für oder gegen die Kultur, sondern um die nüchterne Aufgabe der
Absteckung der rechtlichen Grenzen der Kirchenhoheit des Staates. Die PreussischeMaigesetz-
gebung war die unerlässlich notwendige Ausführungsgesetzgebung zu Art. 15 der Verfassung.
Ihr Verhängnis war nur, dass sie um zwei Jahrzehnte zu spät und in einer durch das Vatikanum ver-
schuldeten ohnehin vorhandenen Spannung zwischen den Staaten und der katholischen Kirche er-
folgte. Ihr Fehler war, dass sie bei musterhaft massvoller und gerechter Anlage im ganzen doch im
einzelnen sich kleinlicher und verärgender Mittel, wieder Bestrafung desMesselesens, einesbesonderen
Staatsexamens für Theologen oder der Sperre der Staatsmittel gegen nicht staatstreue Pfarrer
und Bischöfe, bediente. Das partielle Verwerfungsurteil übertrug sich zu Unrecht auf das ganze.
Diese Fehler wurden aber durch die spätere Revisions- und Novellengesetzgebung mehr als wieder
gut gemacht. Die katholische Kirche in Preussen hat am allerwenigsten Anlass, über Beeinträch-
tigung ihrer Freiheit Klage zu führen. Die Staaten andererseits denken nicht daran, ihre Verhältnis-
ordnung zu den Kirchen auf das alte System der Überspannung der Staatsgewalt zurück-
zuschrauben und in Tätigkeitsgebiete überzugreifen, welche ihrem Wesen fremd sind.
Auch im Verhältnis zur evangelischen Kirche ist das alte Staatskirchentum beseitigt
und hat keine Aussicht, sich wieder zu beleben. Zwar. besteht das landesherrliche
Kirchenregiment fort. Aber es ist seines territorialistisch staatskirchlichen Charakters ent-
kleidet, wird in Staaten mit katholischen Landesfürsten von besonderen evangelischen Kirchen-
regimentsbehörden ausgeübt und findet überall seine Grenze in der durch die neueren Kirchenge-
meinde- und Synodalordnungen den evangelischen Landeskirchen gewährten Autonomie und Selbst-
verwaltung.
So wenig wie diese beiden geschlossenen Einheitssysteme können Staatschristentum oder
Koordination als Verhältnisformen im ganzen noch weiter in Frage kommen. Der sittlich und
religiös ansprechenden Idee vom christlichen Staat fehlt die tatsächliche Voraussetzung der
Realisierbarkeit zunächst schon darin, dass es ein ausschliesslich christliches Volkstum im modernen
Staate nicht mehr gibt. Um das System durchzuführen. müsste man im Namen des Christentums
die Gewissensfreiheit wieder vernichten, müsste den Grundsatz der Unabhängigkeit der bürgerlichen
und staatsbürgerlichen Rechte vom religiösen Bekenntnis zurückziehen. Es gibt ferner überhaupt
kein für das Recht verwendbares interkonfessionelles Christentum. So bringen an die staatliche
Ordnung des Schulwesens, des Eherechts, selbst des Strafrechts Katholizismus und Protestantismus
verschiedene Auffassungen und Ansprüche heran. Aber angenommen endlich, es gäbe ein solches
juristisch fassbares Christentum mit interkonfessionellem Inhalt, so müsste es doch erst ermittelt
und in einer für die Gesetzgebung brauchbaren Weise formuliert werden. Diese Ermittelung und
Formulierung wäre Aufgabe des Staats. Das System beruft also den Staat zum Gesetzgeber in
Glaubenssachen. Das Staatschristentum würde unentrinnbar zum Staatskirchentum zurückführen.
Der wirkliche Wahrheitsgehalt in der christlichen Staatsidee, die dem Volksleben diensame Berück-
sichtigung der Religion im öffentlichen Leben, kommt reiner und wirksamer im Rahmen des Systems
der Kirchenhoheit durch diejenigen Massnahmen zur Geltung, welche man, wie sich noch weiter
ergeben wird, unter dem Begriff der Advokatie des Staates zusammenfasst. Die christliche Staats-
idee in ihrer Einheit und Gesamtheit wird wohl von keinem ernsthaft zu nehmenden Politiker
der Gegenwart mehr verteidigt, in einzelnen Folgerungen ist sie das kirchenpolitische Ideal der
konservativen Parteien geblieben. Andrerseits ist die Koordinationstheorie das ausgesprochene
kirchenpolitische Programm der deutschen Zentrumspartei. Dies erklärt sich leicht. Der mittel-
alterliche Anspruch auf Unterordnung des Staates unter die Kirchenhierarchie war durch die Be-
gründung des modernen Staates endgültig abgelehnt und ohne Reproduktion des kanonischen
Rechts nicht mehr durchführbar. Die politische Vertretung des Katholizismus im neuen deutschen
Reich konnte konstitutionellen Einfluss unmöglich durch ein System gewinnen, welches an allen
Flächen und Kanten den geschichtlichen Tatsachen und den. modernen Geiste widersprach. In dem
Anspruch der rechtlichen Gleichordnung hat man den Ersatz für die verlorene Überordnung gesucht.
Die geistigen Führer haben literarisch und parlamentarisch ihr kirchenpolitisches Programm alsbald
nach den Grundgedanken und Zielen des Koordinationssystems abgesteckt. Keine einseitige Grenz-