Full text: Handbuch der Politik. Erster Band. (1)

Wilhelm Kahl, Staat und Kirche. 101 
daher nach eigenem Ermessen das Gebiet, für welches er seine Zwangsgewalt zur Verfügung stellt 
und unterwirft im Einzelfall die kirchliche Massregel, welcher der bürgerliche Rechtsschutz zuteil 
werden soll, seiner Vorprüfung und Anerkennung. Hauptanwendungsfälle des brachium saeculare 
nach geltendem Recht sind der staatliche Vollzug kirchlicher Disziplinarerkenntnisse und die 
Beitreibung kirchlicher Steuern mittelst des staatlichen Verwaltungszwanges. In beiden Fällen ist 
Voraussetzung, dass die kirchlichen Urteile und Hebelisten für staatlich vollstreckbar erklärt worden 
sind. Die BerücksichtigungdesKirchenwesensimöffentlichenLeben 
äussert sich teils in staatlicher Unterstützung der religiösen Wirksamkeit der Kirche, teils in orga- 
nischer Beteiligung der Kirchen an gewissen Aufgaben der Staatspflege. In ersterer Richtung stehen 
obenan die staatlichen Ordnungen über kirchliche Sonn- und Festtagsfeier, welche der \Vürde des 
Kultus oder dem individuellen Schutze der Sonntagsruhe dienen. In der zweiten Richtung sind 
bemerkenswert die ständigen gottesdienstlichen Einrichtungen in gewissen Anstalten der staatlichen 
Wohlfahrts- und Sicherheitspflege (Strafanstalten) und in der Organisation des Militärkirchen- 
wesens, namentlich aber die weitgehende Beteiligung der Kirche auf dem Gebiete des staatlichen 
Unterrichtswesens aller Grade, beginnend mit der Einrichtung der theologischen Fakultäten an den 
Universitäten und sich durch die Mittelschulen fortsetzend bis zur Ordnung des religiösen Unter- 
richts in den Volksschulen. Freilich ist gerade hiermit ein Gebiet schwieriger Ausgleiche zwischen 
den Ansprüchen von Kirche und Staat bezeichnet. Endlich bilden den Gegenstand des kraft der 
Advokatie gewährten besonderen strafrechtlichen Schutzes der Religionsfriede, 
die Ehre der Kirchen, die Ordnung der Kultusübung und die Sicherheit kirchlichen Vermögens 
nach näherer Massgabe der $$ 166ff., 243, 304ff. des Strafgesetzbuchs für das Deutsche 
Reich. 
III. Die Frage der Zukunft. Sie ist der geltenden Verhältnisordnung gegenüber 
die Forderung der Trennung von Staatund Kirche. Welche rechtlichen Merkmale 
hat dieses System? Wie steht es um seinen universalgeschichtlichen Tatbestand? Welches sind 
die Bedingungen seiner Verwirklichung für die Staaten des Deutschen Reichs? 
Die Begriffsermittelung ist notwendig die erste Aufgabe. Sie hat sich vor allem 
klar zu halten, dass diese Trennung niemals eine absolute Zusammenhangslosigkeit bedeuten kann. 
Aus zwei Gründen nicht. Einmal nicht, weil Staat und Kirchen aus denselben Menschen bestehen 
und die Einheit der Persönlichkeit notwendig verbindend auf die Mitgliedschaft hier und dort zurück- 
wirkt. Sodann nicht, weil alle menschlichen Organisationen an irgend einem Punkte notwendig von 
dem höheren Organismus, dessen Glieder sie sind, rechtlich bestimmend ergriffen werden, also auch 
die Kirchen vom Staat. Es kann sich also für die Begriffsbestimmung nur um die Ermittelung des 
Mindestmasses der an sich unvermeidlichen Rechtsbeziehungen zwischen dem Staate einerseits und 
Kirchengliedern oder Kirchengesellschaften andererseits handeln. Im Verhältnis zu den einzelnen 
Kirchengliedernergibtsich als Grundprinzip der Trennung von Staat und Kirche die Lösung 
jeder rechtsnotwendigen oder gar zwangsweisen Verbindung des Individuums mit dem Kirchenwesen. 
Religion ist Privatsache. Daher einerseits Unabhängigkeit der bürgerlichen und staatsbürgerlichen 
Rechte vom religiösen Bekenntnis, andererseits Gewissensfreiheit bis in die äussersten Grenzen, ins- 
besondere bis zum Wegfall einer Nötigung zur Eidespflicht und der Notwendigkeit einer religiösen 
Erziehung. Verstaatlichung ferner aller derjenigen Gebiete, auf denen möglicherweise Verbindlich- 
keiten religiösen Inhalts geltend zu machen wären: Schul-, Ehe-, Begräbniswesen. Selbstverständ- 
lich endlich staatliche Beurkundung des Personenstandes, aber keine bürgerliche Ordnung über 
Konfessionswechsel oder Austritt aus der Kirche, weil Kirchenangehörigkeit nicht rechtlich in der 
Staatsordnung reflektiert. Im Verhältnis zuden Kirchengesellschaften ergibt sich als 
grundlegendes Trennungsmerkmal der Wegfall des geschichtlichen Sonderbegriffs der „Kirchen“. 
Sie gehen im Gattungsbegriff von „Gesellschaften mit religiöser Zweckbestimmung“ unter. Es 
gibt keine Staatskirchen mit dem Privilegium der öffentlichen Korporationsqualität. In die einzelnen 
Folgerungen aufgelöst: keine öffentlich rechtliche Natur der Kirchenverfassung, der kirchlichen 
Behörden, Beamten, Anstalten; keine Staatshilfe, weder einen Kultusetat noch die Hülfe eines 
staatlichen Verwaltungszwangs; keinen rechtlich anerkannten Einfluss des Kultus im öffentlichen
	        
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