Full text: Handbuch der Politik. Erster Band. (1)

104 Wilhelm Kahl, Staat und Kirche. 
  
gerufener politischer Akt mit dem ausgesprochenen Zweck, den Einfluss des Katholizismus im 
Staatsleben zu brechen. Ob sie auf ihrem eigenen Wurzelboden sich werde halten können, ist 
zweifelhaft, nach den geschichtlichen Erfahrungen über den Wechsel der kirchenpolitischen Systeme 
in Frankreich nicht wahrscheinlich. Gewiss ist nur, dass sie in irgend welchem Sinn ein Vorbild für 
den Gang der Kirchenpolitik in Deutschland nicht abgeben kann. 
Für diedeutscheFrage bedarf es zunächst der Wiederanknüpfung an den geltenden 
Rechtszustand. Nach ihm besteht bereits so vollkommen als irgendwo eine Trennung insoweit, 
als solche durch die Verschiedenartigkeitdes\Wesensvon Staat und Kirche gefordert 
wird: Trennung im Verhältnis zu den Kirchengliedern durch Gewissensfreiheit, Unabhängigkeit 
der bürgerlichen und staatsbürgerlichen Rechte vom religiösen Bekenntnis, Verstaatlichung von 
Personenstand und Ehe; Trennung im Verhältnis zu den Kirchengesellschaften durch Kultusfreiheit 
und Selbständigkeit der Kirchen quoad sacra interna, wie in Lehre und Kultus, so in den Freige- 
bieten der Autonomie. Eine zweifache Verbindung andererseits unterhält das ‚System der 
Kirchenhoheit durch Staatsaufsichtund Advokatie auf den früher bezeichneten Ge- 
bieten der sacra externa. Wird das Problem für Deutschland gestellt, so gilt es also, auch diese 
beiden Beziehungen in ihrer Gesamtheit zu lösen. Soll verzichtet werden auf die gesetzliche 
und administrative Staatsaufsicht über das kirchliche Ämterwesen, die kirchliche Straf- und Dis- 
ziplinargewalt, die kirchliche Vermögensverwaltung, die religiösen Vereine und Genossenschaften ? 
Werden religiöse Kindererziehung, Konfessionswechsel, Austritt aus der Kirche der freien Konkurrenz 
der Religionsgesellschaften ohne bürgerlich rechtliche Ordnung zu überlassen sein ? Ist andererseits 
die Anerkennung der historischen Kirchen als öffentlicher Korporationen zurückzuziehen, also 
das Kultusbudget zu streichen, die Religion als Privatsache zu behandeln und in allen ihren Ein- 
wirkungen auf das öffentliche Leben, in Sonntagsruhe, Gewerbebetrieb, Sozialpolitik, Militär- 
kirchenwesen, Gefängniswesen usw. zu tilgen ? ist jeder spezifische Staatsschutz preiszugeben ? Ist 
der Zusammenhang von Staatsschule bis zur grundsätzlichen Beseitigung des Religionsunterrichts 
und Aufhebung der theologischen Fakultäten zu lösen? Das und im einzelnen noch vieles andere 
sind de konkreten Fragen und Entschliessungen für die Staaten des 
deutschenReichs. Die Stellungnahme zu dem Problem wird stets eine individuelle und 
subjektive sein. Folgende Momente sind nach meinem Urteil aus den Gesichtspunkten des Rechts 
und der Politik beachtenswert und entscheidend. 
Zunächst die Problemstellung selbst. Man will Trennung von Staat und Kirche in 
Deutschland „einführen“. Kann man das? Die „Einführung“ wäre der erstmalige Versuch, das 
System auf ein paritätisches Staatswesen grössten Stils, das religiös und kirchlich komplizierteste 
der Welt, originär zu übertragen, ein Staatswesen, dessen Verhältnis zur evangelischen Kirche sich 
seit Jahrhunderten auf dem Boden des Landeskirchentums festgestellt, dessen Verhältnis zur 
katholischen Kirche unter schweren Erschütterungen sich regional ausserordentlich verschieden 
planmässig und vorsichtig zu dem gegenwärtigen modus vivendi entwickelt hat. In diesen organisch 
gewordenen Zustand der Dinge kann man nicht ein kirchenpolitisches System, und wäre es noch so 
preiswürdig vom Standpunkte der Theorie, mechanisch hineintragen. Das Verhältnis von Staat 
und Kircheentsteht,eswird aus inneren und geschichtlichen Lebensbedingungen heraus, aus 
vorhand Notwendigkeiten. Eslässtsich nicht künstlich machen. Wird es künstlich durch eine 
zufällig im Besitz der Macht befindliche Mehrheit „eingeführt“, so kann es, weil nicht der adäquate 
Ausdruck des Volksbewusstseins, Dauerbestand nicht haben. In Nordamerika ist esgeworden, 
seit und mit der Staatenbegründung wurde jeder intime Assimilationsprozess von Staat und Kirche 
verhindert. In Frankreich wurde die Sache aus politischen Gründen gemacht. Dort wird 
das System von der allgemeinen religiösen Überzeugung getragen, hier muss es durch Polizeimacht 
aufrechterhalten werden. Die richtige Fragestellung ist also nicht die, ob das System „einzuführen“ 
sei, sondern, ob für Deutschland seine Gegenwartsbedingungen vorhanden sind. 
Damit eröffnet sich ein zweiter Fragenkreis der Überlegung. Sind auf dem gegebenen ge- 
schichtlichen Boden dieinneren geschichtlichen Bedingungen für Deutschland erfüllt? Wer die 
Dinge real und unbefangen besieht, muss bedenklich sein, die Frage zu bejahen. Zunächst schon 
im Hinblick darauf, ob es hier möglich sein werde, die grossen historischen Kirchen durch Rechts- 
 
	        
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