Full text: Handbuch der Politik. Erster Band. (1)

Frans Oppenheimer, Staat und Gesellschaft. 113 
  
Es ist völlig unmöglich, eine zureichende dogmenhistorische Darstellung der Anschauungen 
zu geben, die über das Verhältnis von Staat und Gesellschaft geäussert worden sind. Zunächst aus 
einem rein äusserlichen Grunde: das Material ist über die gesamte Literatur der Philosophie, der 
Politik, der Ökonomik, der Staatsrechtstheorie, der Historik, der Soziologie usw. derart zersplittert 
und verzettelt, dass niemand es übersehen kann. Aber wollte man auch auf Vollständigkeit der 
Darstellung gänzlich verzichten, so würden dennoch innere Gründe die dogmenhistorische Dar- 
stellung ausschliessen. Erstens ein terminologischer: die Begriffe schwanken so stark, dass, z. B. 
Arnold Klöppel in seinem Buche „Staat und Gesellschaft‘ genau dasjenige Staat nennt, was ich als 
„Gesellschaft‘“ bezeichnen werde, und umgekehrt genau das „Gesellschaft“, was ich „Staat“ 
nenne. Die Unklarheit der Begriffsbildung deutet bereits auf den zweiten inneren Grund vor: die 
ältere Gesellschaftsphilosophie hat zwischen den beiden Phänomenen so gut wie niemals unter- 
schieden und niemals scharf unterschieden. Den antiken Schriftstellern gelten beide mehr oder 
weniger als identisch; jede kleine organisierte Menschengruppe ist für Platon bereits ein „Staat“, 
während unsere Zeit in der Regel hier von einer „‚Gesellschaft‘‘ sprechen würde. Nur betonen die der 
Stoa mehr geneigten Schriftsteller stärker den „gesellschaftlichen“, die der epikuräischen Lehre 
mehr geneigten stärker den „staatlichen‘ Charakter der Gemeinschaft, die jenen von Natur wegen, 
diesen durch Satzung entstanden ist. Diese Gleichsetzung geht dann durch Vermittlung der ka- 
nonischen Philosophie bis auf die Neuzeit. 
So z. B. sagt Hintze, die menschliche Organisation sei doppelter Natur, erstens Lebens- 
gemeinschaft und zweitens „ein System von Einrichtungen zum Schutze, zur Beherrschung und 
Regierung des ganzen Menschen- und Gebietskomplexes. Diese Seite der Organisation nennen wir 
die politische, jene die soziale. Von der einen Seite ist das Ganze Staat, von der anderen Seite Ge- 
sellschaft‘. Für Carl Dietzel sind Volkswirtschaft, Gesellschaft und Staat drei aufeinander- 
folgende Stufen der Entwicklung, jede ausgezeichnet durch eine stärkere Bindung der Individuen 
an einander. Er fasst den Staat auf als einheitliche Organisationsform des Volkes zur Verwirklichung 
gemeinsamer Bedürfnisse und Strebungen. Das ist also derjenige Teil des Staatsinhaltes, den ich 
bezeichne als den ‚Staat als Organisation des gemeinen Nutzens“, während der zweite Bestandteil 
fehlt: „Der Staat als Organisation des Klassennutzens“. 
Wenn einmal die Vorstellung auftaucht, dass hier zwei zu unterscheidende Realphänomene 
gegeben seien, so wird doch oft noch immer der Staat aufgefasst als ein Teil der Gesellschaft: aus 
ihrem weiteren Kreise hebt er sichals der engere Kreis heraus. So z. B. sagt vonMayr 1.c. S.5: „Staat 
und Gesellschaft sind nicht Gegensätze, sondern Gesellschaft ist meines Erachtens der allgemeine 
Begriff, der alle Arten von Vergesellschaftung in sich schliesst, deshalb vor allem auch die macht- 
volle und formal bestorganisierte und bestgegliederte Vergesellschaftung der Menschen im Staat“. 
Im allgemeinen scheint hierbei die Vorstellung vorzuherrschen, dass im weiteren Kreise der 
Gesellschaft die Sitte, im engeren Kreise des Staates das Recht herrscht. 
Diese Begriffstrennung ist offenbar ungenügend. Recht und Sitte gehen häufig in einander 
über; das Recht ist oft nichts anderes als kodifizierte Sitte, und umgekehrt wird zuweilen der Ahn- 
dung durch die Sitte überlassen, was vorher durch das Strafrecht verboten war, z. B. die Majestäts- 
beleidigung, die Gotteslästerung, der Ehebruch der Frau. Vor allem aber wird der wichtigste Bestand- 
teil der Gesellschaft im ganzen, die Wirtschaftsgesellschaft, die oft, namentlich von national- 
ökonomischen Autoren, als Gesellschaft schlechthin betrachtet wird, von Recht und Sitte gleich- 
mässig beherrscht und beeinflusst. 
Etwas anders fasst W en d t das Problem auf. Nach ihm ist der Staat der begriffliche Inhalt 
aller Institutionen von vorwiegend öffentlich-rechtlichem Charakter, die Gesellschaft der begriffliche 
Inhalt aller Institutionen von vorwiegend privatrechtlichem Charakter. Diese Definition versagt 
nicht nur formal, weil sie mit der Einschränkung „vorwiegend“ jede scharfe Bestimmtheit verliert, 
sondern auch material, weil sie verkennt, dass unzweifelhaft sehr viele scheinbar privatrechtliche 
Institutionen dennoch im öffentlichen Recht wurzeln, vor allem das „Gewalteigentum‘‘ an Grund 
und Boden, von dem unten die Rede sein wird. 
Zu schärferer Scheidung der Begriffe kam es erst, als der wirtschaftliche, naturrechtlich 
begründete Liberalismus sich gegen die im Merkantilismus überspitzte Omnipotenz des Staates 
Handbach der Polltik. II. Auflage. Band I. 8
	        
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