1228 Josef Kohler, Staat und Recht.
Eine der bedeutendsten Entwicklungen ist es nun, wenn das Geschlechtertum seine Kraft
verliert und an Stelle dessen die örtliche Vereinigung der Stadt oder des Staates zur Geltung gelangt.
Jetzt ist es nicht mehr die Familie, sondern der Staat, der die allgemeinen Interessen wahrnimmt,
den Einzelnen im Zaum hält, dem Schwachen aufhilft, und an Stelle des Familienhauptes tritt der
König oder in republikanischen Staaten das zeitweilige Staatsoberhaupt, der Kosme, und der
Senat oder der Rat der Alten. Jetzt erst ist die Gesellschaft zum wahren Staate geworden, und der
Gedanke, dass diese eine Gemeinschaft die wichtigsten Interessen zu wahren oder auch gar zu
erfüllen hat, charakterisiert die moderne Zeit. Vielfach sucht der Staat durch gewisse Zwangsmittel
den Einfluss der Geschlechter zu brechen; er fordert die gemeinsame Erziehung der Knaben, die
gemeinsame Heerbildung der Männer, und so kommt es nicht selten, dass an Stelle der Familien-
gemeinschaft andere Gemeinschaften treten: Jünglingsgenossenschaften, Hetärien und dergleichen,
welche dazu beitragen, den Einfluss der Familien und Geschlechter abzulenken.
Der Staat selber wird von Hegel als die Verwirklichung der sittlichen Idee bezeichnet und
in fast überschwenglicher Weise gepriesen. Hegel sieht mit einer gewissen Geringschätzung auf
diejenigen Zeiten herab, die noch nicht zu einer eigentlichen Staatsentwickelung gelangt sind, und
nimmt an, dass erst im Staate eigentlich Kultur und Recht entstehen. Dies ist eine Übertreibung;
aber richtig ist, dass die Rechtsbildung im Staate in gesteigertem Masse erfolgt und dass insbe-
sondere, nachdem der Staat geworden ist, bedeutende Denker und Lebenskünstler die Staatsauf-
gabe erfassen und Anordnungen treffen, welche als geeignet erscheinen, den Fortschritten der
Sittlichkeit, der Pflege des Schönen und der wissenschaftlichen Erkenntnis zu dienen; und auch
die Verwirklichung des Rechtes durch Staatsorgane, durch Gerichte und Vollstreckungsbehörden
kann in einer Weise erfolgen, welche bisher vergeblich erstrebt worden ist.
Dagegen kann nicht behauptet werden, dass der Staat die einzige Verwirklichung der Kultur-
idee ist;nicht nur müssen unter der Herrschaft des Staates kleinere Gemeinschaften bestehen, welche
in einer gewissen selbständigen Weise die Prinzipien, die der Staat aufgestellt hat, im einzelnen
durchführen; diese Gemeinschaften sind jetzt nicht mehr Familien, Geschlechter, Landsmann-
schaften, sondern örtliche Gemeinschaften, Provinzen, Gemeinden usw.; und je reichhaltiger die
Ziele sind, welche die Menschheit sich steckt, und je eifriger die Bevölkerung an ihrer Verwirk-
lichung arbeitet, um so mehr werden Vereine und Gesellschaften aufschiessen und ein Recht für
sich verlangen. Vor allem wird der Vermögenstrieb zu neuen Vergesellschaftungen führen: man
wird gemeinschaftliche Unternehmungen veranstalten, um die Natur zu besiegen, die Natur-
produkte zu verarbeiten und sie in Handel zu bringen. Und so bildet sich neben der staatlichen
Genossenschaft eine Fülle privater Genossenschaften, Gesellschaften, Vereine: Vermögen und Ver-
mögen, Vermögen und Arbeit verschwistern sich, und unter dem Schutze des Staates wirken neue
und mächtige Gemeinschaften.
Aber auch idealeMächte ziehen eine Fülle menschlicher Bestrebungen an sich, und erwerben
oft gegenüber dem Staat eine selbständige Stellung. Die Kirche lenkt die Menschheit zu neuen
Zielen und macht ihre Ideale auch dem Staat gegenüber geltend. Es entstehen Konflikte, welche
sich allmählich in dem Sinne lösen, dass das äussere Rechtsleben dem Staate allein überlassen wird,
die Kirche aber um so mehr an der Fortbildung des inneren Menschen arbeitet.
Auf der anderen Seite lässt sich die strenge Trennung der Staaten nicht mehr aufrecht
erhalten, und der völkerrechtliche Verkehr bildet die Brücke zu Staatsgebilden, in welchen der
einzelne Staat mehr oder minder sein Recht einem grösseren Ganzen überantwortet; so entstehen
Staatenbünde mit Vergesellschaftung der staatlichen Tätigkeit, so entsteht schliesslich der Bundes-
staat, jene grossartige Schöpfung der Vereinigten Staaten, welche seinerzeit allerdings schon der grie-
chische Geist versucht, welche aber erst die englisch-amerikanische Energie vollendet hat. In
Bundesstaaten hat sich der Norden, wie der Süden Amerikas zurechtgefunden, und Deutschland
und die Schweiz, ehemals lose Staatenbünde haben durch die bundesstaatliche Verfassung Kraft
und Stärke gewonnen.
In diesen Gemeinschaften wirkt nun das Recht.
Die Gemeinschaft gibt dem Einzelnen seine Stellung als Persönlichkeit mit allem, was damit
zusammenhängt; sie sichert ihm seine Selbständigkeit in der Familie, die sich jetzt allerdings auf