Erstes Hauptstück.
Politik als Staatskunst und
Wissenschaft.
1. Abschnitt.
Politik als Staatskunst. Ihr Begriff und Wesen.
Von
Geh. Justizrat Dr. Philipp Zorn.
Mitglied des Herrenhauses, Kıonsyndikus, o. Professor der Rechte an der Universität Bon.n.
1. Politik ist die geistige Fähigkeit, den Staat und dessen öffentliches Leben zu ver-
stehen und die Kunst nach Massgabe dieses Verständnisses auf den Staat und das öffentliche
Leben des Volkes einzuwirken.
Daraus ergibt sich zugleich der wissenschaftliche Begriff Politik: Politik istdieWissenschaft,
die jenes Verständnis vermittelt und damit den Wegweiser bietet für jenes praktische Handeln.
2. Die Politik fordert demnach wie jede Kunst und Wissenschaft die allgemeine Be-
fähigung, sich ein Verständnis der Dinge anzueignen, auf die sie gerichtet ist, also des Staates
und seines öffentlichen Lebens, und zugleich die besondere Fähigkeit und den Willen, auf
den tatsächlichen Gang der Dinge des Staates und seines öffentlichen Lebens einzuwirken.
Fehlt dieser Wille, bezw. ist er nur darauf gerichtet, diesen tatsächlichen Gang der Dinge
zu beobachten und darzustellen, so mag man von „theoretischer Politik“ sprechen; diese ist
aber lediglich ein Stück der Geschichtswissenschaft.
Beruht somit die Politik auf dem eindringenden Verständnis der Dinge des Staates und
seines öffentlichen Lebens, so wird die Zahl derer, die befähigt sind, an der Politik teilzunehmen,
immer eine relativ kleine sein. Ausscheiden werden aus der aktiven Politik alle, deren Interesse an
den Dingen des Staates und des öffentlichen Lebens nicht so gross ist, um das Bedürfnis zu er-
wecken, von diesen Dingen ein wirkliches Verständnis zu gewinnen. Das solonische Ideal, dass
jeder Bürger als solcher verpflichtet sei, jenes Verständnis sich zu erarbeiten, wird auf allen Kultur-
stufen ein Ideal sein. Es wird immer Menschen im Staate geben, denen die Dinge des Staates und
des öffentlichen Lebens deshalb fremd bleiben, weil ihr geistiges Verlangen sich vollkommen er-
schöpft in anderen Dingen, — „nee ulla nobis magis res aliena quam publica“ erklärten die Christen
anfangs im römischen Reiche —, künstlerischen, reinen Erwerbsinteressen, von denen ganz zu
schweigen, bei denen ein geistiges Verlangen überhaupt nicht oder so gut wie garnicht besteht.
Handbuch dor Politik. II. Aufiage. Band I. 1