Wilhelm van Calker, Die staatlichen Herrschaftsformen. 145
Prüfung der staatlichen Rechnungsnachweisungen, in dem Rechte zur Entgegennahme, Prüfung
und Weitergabe von Petitionen an die Regierung, in der Vorbringung von Wünschen, Vorstellungen
und Beschwerden bei dem Landesherrn, in dem Interpellationsrecht und in der Inanspruchnahme
der Ministerverantwortlichkeit.
yy) Die parlamentarische Monarchie.
Man kann mit Fug und Recht darüber zweifelhaft sein, ob es möglich ist, die parlamen-
tarische Monarchie streng juristisch zu erfassen. Gleichwohl soll versucht werden, ihre Darstellung
wenigstens äusserlich von der der konstitutionellen Monarchie zu trennen und die Momente hervor-
zuheben, welche zu einer brauchbaren Unterscheidung zu führen scheinen.
Was die parlamentarische Monarchie mit der konstitutionellen Monarchie und über-
haupt mit jeder Einherrschaft gemein hat, ist das Vorhandensein eines Staatsoberhauptes,
dessen Wille als der rechtlich höchste im Staate gilt und von keinem anderen Willen ab-
geleitet ist.””) Solange es von rechtswegen der Wille des Staatsoberhauptes ist, der den Staat,
d. h. die übrigen Staatsorgane, in Tätigkeit setzt und erhält, der das Kabinett und die Beamten
ernennt und absetzt. und ihre Funktionen bestimmt, der die Gesetzgebungsmaschine in Gang
bringt oder still stehen lässt — solange ein Staatsoberhaupt da ist, das alle diese Fähigkeiten in sich
allein vereinigt und das jeder Veränderung dieser verfassungsmässigen Ordnung des Staates
sein absolutes Veto entgegensetzen kann,”) — so lange ist die monarchische Herrschaftsform
gewahrt. Das, was die parlamentarische Monarchie von der konstitutionellen Monarchie
unterscheidet, ist also nicht eine grundsätzliche Verschiedenheit in der rechtlichen Stellung
des Monarchen, sondern eine grundsätzliche Verschiedenheit in bezug auf die tatsächliche
Machtstellung des Parlaments: Ueberall, wo das Parlament einen so starken Einfluss auf
den Monarchen besitzt und ausübt, dass trotz der grundsätzlichen Wahrung der vorgenannten
rechtlichen Befugnisse des Monarchen das Schwergewicht der Staatsgewalt nicht bei ihm,
sondern beim Parlamente ruht, besteht in Wahrheit das Regierungssystem der parlamen-
tarischen Monarchie. Der englische Parlamentarismus, der mit Reeht als der Potrotyp des
monarchischen Parlamentarismus überhaupt angesehen wird, fordert nicht mehr und nicht
weniger als „eine Regierung des Volkshauses der Legislative durch einen Ausschuss des
Parlaments im Namen des Monarchen‘“.”) Gegenüber dieser Forderung erhebt sich natürlich
sofort die Frage: „Wie lässt sich eine solche Parlamentsregierung mit dem Wesen der
Monarchie vereinigen?“ Die Antwort gibt uns die Praxis des englischen Parlamentarismus:
In England hat sich in langer geschichtlicher Entwicklung, seit der Revolution von 1688,”)
die ungeschriebene Regel herausgebildet, dass das Kabinett des Königs durchweg aus Mit-
gliedern der beiden Häuser des Parlaments bestehen muss, welche auf demselben politischen
Standpunkt wie die Majorität des Unterhauses stehen. Jeder Wechsel der Majorität des
Unterhauses hat also notwendigerweise einen Wechsel des Kabinetts zur Folge, wobei dem
König hinsichtlich der Auswahl der in das Kabinett zu berufenden Personen naturgemäss
recht enge Grenzen gesteckt sind. Immerhin ist es der König, der die Kabinettsmitglieder
ernennt und in dessen Auftrag die Minister tätig werden. Die reale Grundlage der macht-
vollen Stellung des englischen Kabinetts ist die Übereinstimmung seines (des Kabinetts)
Willens mit dem Parlamentswillen — dierechtliche Grundlage seiner Stellung aber ist die
Berufung durch den König. Und ebenso wie das Kabinett nur mit Erlaubnis des Königs seine
Regierungstätigkeit entfalten kann, so ist auch das Parlament hinsichtlich des Beginnes, der
Fortsetzung und der Beendigung seiner Funktionen von dem Willen des Königs abhängig.
Obgleich es also Tatsache ist, dass der König von dem ihm zustehenden Vetorecht gegen-
”) Vgl. oben S. 137 und Jellinek, S. 653 (669).
?s) Bezüglich des letzterwähnten Punktes s. Jellinek, S. 668(684); a. M. Bernatzik, S. 46.
?4) Vgl. hierher und zum Folgenden v. Holst, das „orfassungsrocht der Vereinigten Staaten von Amerika
im Lichte des englischen Parlamentarismus, Freiburg 1887
”%) 8. aber auch Jellinek, S. 684, Anm. 2 (S. 702, Anm. 1).
Handbuch der Politik. TT. Auflage. Band I. 10