Full text: Handbuch der Politik. Erster Band. (1)

8 Philipp Zorn, Politik als Staatskunst. Ihr Begriff und Wesen. 
  
Und andererseits wird die Staatsform und die Kulturentwicklung des Staates für seine Politik 
von höchster Bedeutung sein. Es liegt auf der Hand, dass die auf der Grundlage der Volkssouveränität 
ruhende Republik die breiten Massen des Volkes in viel stärkerem Masse in die Bahnen der Politik 
hereinzieht, als die absolute Monarchie. Es ist ebenso zweifellos, dass je umfassender die Zwecke 
des Staates auf höheren Kulturstufen werden, umso grösser auch der Kreis derer wird, die an einem 
dieser Zwecke und damit am Staate selbst einen unmittelbaren Anteil nehmen. 
Immer und überall aber wirdesnicht wenige Staatsangehörige geben, die den Dingen des Staates 
gleichgültig gegenüberstehen und keine Staatsform und keine Kulturentwicklung wird imstande 
sein, diesen toten Punkt zu überwinden. Aus derZahl dieser Gleichgültigen werden dann bei kluger 
und tatkräftiger Agitation leicht jene viel beklagten‘ Mitläufer‘“ gewonnen werden, die an sich ein 
Verständnis der Politik nicht haben und die doch so häufig die schwere und folgenreiche Entschei- 
dung in der Politik geben, besonders bei Wahlen. Je stärker das öffentliche Leben an dieser Unwahr- 
heit krankt, desto schwieriger. ja selbst gefahrvoller wird die Arbeit derer werden, die die Verant- 
wortung für den Gang der Politik und des Gemeinwesens tragen. Und in diesem Punkte vor 
allem liegt auch die Berechtigung des Zweifels an der Wahrheit des heute so vielfach als 
zweifellose politische Wahrheit gepriesenen allgemeinen Wahlrechtes, ganz ebenso wie bei der 
Utopia des Thomas Morus. 
Darum ist es eine der obersten Aufgaben im moderneu hochentwickelten Kulturstaat, die 
Fähigkeit zum Verständnis der Politik in immer weitere Kreise des Volkes zu tragen. Je bedeutender 
die Stellung eines Staates in der Gemeinschaft der Staaten geworden ist, desto mehr sind die ver- 
antwortlichen Leiter der Politik des Staates angewiesen auf verständnisvolle Teilnahme und Unter- 
stützung der Bürger des Staates. Nur auf dieser Grundlage kann die Kraft des Staates zur vollen 
Geltung kommen: dies war das Grundaxiom des grossen Reichsfreiherrn vom Stein bei seiner Wieder- 
aufrichtung des preussischen Staates. Dieser Arbeit ist in Deutschland bis jetzt noch nicht die ge- 
nügende Aufmerksamkeit zugewendet worden. Was in dieser Hinsicht geschehen ist, ist von Seiten 
der politischen Parteien geschehen. Bei diesen aber ist die Arbeit eine dutch bestimmte von vorn- 
herein festgestellte Gesichtspunkte gebundene. Dies kann nicht genügen, vielmehr bedarf es hierfür 
einer breiteren Grundlage, für die gewissermassen die Diagonale aus allen Parteiprogrammen zu 
zichen das Bestreben sein muss. Nur in Zeiten grosser nationaler Erregung hat bis jetzt in Deutsch- 
land diese breite Grundlage eines starken einheitlichen nationalen Bewusstseins gewonnen werden 
können. Hier wirksam einzugreifen ist die Aufgabe der „Allgemeinen Bürgerkunde“ in der zu 
schaffenden allgemeinen, nicht Fachinteressen dienenden, obligatorischen Fortbildungsschule. 
Eine ausgezeichnete Vorschule der Politik bietet unter allen Umständen der Dienst in der 
Selbstverwaltung, der insbesondere in Preussen seit der Kreis- und Provinzialordnung auf dem Grund 
der Steinschen Städteordnung einen überaus grossen Umfang angenommen hat. Davon wird be- 
sonders zu handeln sein. 
3. Die Grundlage für die Wissenschaft der Politik bildet die Geschichte. Jedes Volk schafft 
sich im Laufe der Geschichte seine besondere, aus den verschiedensten Gesichtspunkten zusammen- 
gesetzte politische Grundlage. Auch durch die grössten Staatsveränderungen kann doch diese aus 
dem Wesen des Volkes hervorgegangene Grundlage des Staatslebens keine Veränderung erfahren. 
Alle Veränderurgen sind hier nur Entwicklungen, sei es in ausdehnenden, sei es im einschränkenden 
Sinne. Die Geschichte bildet somit die oberste Grundlage der Politik. Man kann wohl in gewisser 
Weise den alten Satz des monarchischen Staatsrechtes: „Der König stirbt nicht“ auch auf die Völker 
anwenden: Die Völker sterben nicht und deı Grundsatz ihres Wesens bleibt der gleiche. In diesem 
Sinne ist die deutsche Geschichte zweifellos eine Finheit der deutschen Volks- und Staatsent- 
wicklung. Aber die Politik wird sich hier vor dem schweren Fehler hüten müssen, abgestorbene 
Kröfte als weiterwirkend anzusehen; seit dem westfälischen Frieden war diejenige politische Gesamt- 
kraft des deutschen Volkslebens, die ihre staatliche Form im alten Reiche gefunden hatte, vollkommen 
erschöpft; das Scheinleben des alten Reiches von 1648—1806 entbehrte in Wirklichkeit der poli- 
tischen Grundlage einer deutschen Gesamtkraft; an ihre Stelle tritt zunächst in den Formen des 
rein brandenburgisch-p ischen Partikularismus eine neue politische Kraft, die nach der unab-
	        
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