166 Adolf Tecklenburg, Allgemeine Würdignng der Herrschaftsformen
aa) Konstitutionell- und parlamentarisch - repräsentative
Staaten. Es kann nicht verwundern, wenn deutsche Schriftsteller mehr der konstitutionell-
repräsentativen, englische und französische mehr der parl tarisch-repräsentativen Herrschafts-
form das Wort reden.
Rehm’°) stellt das Ordnungsprinzip über das Freiheitsprinzip. Um nicht der Laune und
Selbstsucht das Tor zu öffnen, soll zwar die Regierung nicht einem Individuum, so:.dern mehreren
von verschiedenen Interessen getragenen Individuen zustehen; aber dem Ordnungsprinzip zuliebe
soll die oberste Staatsgewalt einer natürlichen Persönlichkeit anvertraut werden. Das wird er-
reicht, wenn der Monarch bei Ausübung der Herrschaft an Normen gebunden wird, an deren Auf-
stellung ein aus den Untertanen zusammengesetztes Staatsorgan mitwirkt. Hierbei erhebt sich
aber die Frage, wo das Schwergewicht bei der Staatsleitung liegen soll, ob beim Monarchen oder beim
Parlament. Praktisch gestaltet sich diese Frage dahin um, ob der Monarch frei seine Minister
wählen, und so auch auf die Gefahr eines tatsächlichen Stillstandes der staatlichen Maschine hin,
seinen Willen gegenüber demjenigen des Parlamentes nicht opfern müsse, oder ob der Monarch
gehalten sei, seine Minister aus Vertretern der jeweiligen Majorität im Parlament, und zwar in der
Volkskammer, zu nehmen, wobei denn zufolge notwendigen Nachgebens von seiten des Monarchen
die Harmonie der Regierung mit dem Parlament gewährleistet wird. Rehm entscheidet sich fü-
die erstere Alternative, da er die parlamentarische Regierung als den Begriff der Monarchie wider-
sprechend verwirft. Parlamentarische Monarchie ist ihm nur ein Name, dessen Vertauschung mit
„monarchisch beschränkter Demokratie‘ er entsprechender fände.”')
Umgekehrt wird die parlamentarische Regierung von Esmein’) eine „bewunderungs-
würdige Einrichtung‘ genannt; denn sie vereinige zwei fast entgegengesetzte Zwecke: freie Stellung
der Exekutivgewalt und überragende Stellung der Kammern gegenüber der Regierung. Freilich
besteht eine freie Entschliessung der Exekutive hinsichtlich der Auswahl der Minister, jedoch nur
formell. Tatsächlich vermag hier der Monarch oder Präsident niemand anders zu seinen Ministern
zu machen, als die Führer der Majorität in der Volkskammer. Allein Jellin ek macht im Hinblick
auf die parlamentarische Monarchie doch darauf aufmerksam, dass bei einem Wechsel der politischen
Verhältnisse die formalrechtliche Selbständigkeit des Königtums zu politischer Bedeutung gelangen
und in schwierigen staatlichen namentlich parlamentarischen Krisen einen hohen Wert erhalten
könne. Ebenso vermag die Bedeutung des Königtums bei ungefährem Gleichstand zweier um die
Oberhand ringenden Hauptparteien ausschlaggebend ins Gewicht zu fallen.”)
So läuft am Ende der Gegensatz in der Beurteilung darauf hinaus, welche Autorität sich das
Parlament in gefestigter Weise zu erringen gewusst hat. Hiervon wird es abhängen, ob der Staat
unter der konstitutionellen Regierung oder unter der parlamentarischen Regierung besser fährt.
Wo das Parlament noch keine Festigkeit in sich erlangt hat, da ist die konstitutionelle Regierung
am Platze; hier wird durch sie die Festigkeit der inneren und äusseren Politik gewährleistet, die
anders nicht möglich wäre.”) Wo dagegen, wie in England, das Parlament eine derartige politische
Klugheit und Festigkeit besitzt, dass sogut die jeweiligam Ruder befindliche Partei ihre Geschlossen-
heit zu bewahren strebt, wie auch ihre Gegnerschaft sich einheitlich formiert”‘), und wo selbst bei
ein m Regierungswechsel ein plötzlicher Bruch in der Kontinuität der Politik vermieden wird,’*)
da ist nicht einzusehen, wie die parlamentarische Regierung zu Unstetigkeit und Schwäche der
Regierung führen solle. Allerdings ein Faktor muss vorhanden sein, der stark genug ist, die jeweilige
0) Allgemeine Staatslehre S. 200 ff.
?) Rehm, Staatslehre 204; s. auch Seydel, Abhandlungen, 1893, S. 121 ff., bes. 126 ff., Leonard
Courtney, the working Constitution of the United Kingdom, 1909, S. 1f., Pilot y, Autcerität und Staate-
gevwalt, Jahrbuch der Vereinizunz f. vergleichende Rechtswissen:schaft zu Berlin VI, VII, 571.
2) El&ments de droit constitutionnel S. 168 ff.
”») Jellinek, Staatslehre, 686: im gleichen Sinn: Stoork, Festgabe für Laband I (1907) 164.
”4) Seydel, Abhandl. 126 ff.
’®) So das \Vesen des mehr Schein als Wirklichkeit darstellenden „Zweiparteiensystems“ ; darüber: Men -
delsohn-Bartholdy im Jahrbuch des öffentlichen Rechts III 185 ff.; Sidgwick 594, 595.
’) J,ow, die Regierung Englands, übersetzt von Hoops, 1908 S. 123,
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