186 Franz W. Jerusalem, Zentralisation und Dezentralisation der Verwaltung.
Infolge dieser Verfassungsumwälzung musste auch das Friedensrichteramt wenigstens in
gewisser Beziehung neu gestaltet werden. Nach dem Wegfallen einer obersten Aufsichts- und Über-
wachungsinstanz wäre an sich der Court of Kings Bench für die (richterliche) Entscheidung über alle
Klagen betreffs der Verwaltung der Friedensrichter kompetent gewesen. Es war aber natürlich un-
möglich, ihn mit jeder Klage zu behelligen, anderseits war es auch ausgeschlossen, die Entscheidungen
des Friedensrichters für inappellabel zu erklären. Es wurde deshalb eine neue Mittelinstanz, die
Quarter Session durch Zusammenfassung der Friedensrichter der Grafschaft und eventuell der
Stadt zu einem Kollegium gebildet, welche Rekursinstanz gegen die Entscheidungen des in Petty
Session entscheidenden einzelnen Friedensrichters wurde; gegen deren Entscheidung war der Court
of Kings Bench letzte Instanz. Der Quarter Session wurde daneben eine Reihe neuer Verwaltungs-
aufgaben auferlegt. Aufdiese Weise wurde jene rechtliche und faktische Unabhängigkeitder Lokalver-
waltung geschaffen, die ihr seit dem Anfange des 18. Jahrhunderts ein eigentümliches Gepräge verlieh.
Die fortschreitende Entwicklung konnte jedoch bei diesem Punkte nicht stehen bleiben.
Das 18. Jahrhundert ist die Zeit, wo der Grund gelegt wurde zu der heutigen industriellen und
kommerziellen Grösse Englands; allenthalben zeigte sich neues Leben, die Industrie begann sich zu
regen, der Handel nahm vor allem in den Seehäfen infolge der Navigationsakte einen gewaltigen
Aufschwung, der Schutzzoll förderte die intensivere Ausnützung von Grund und Boden. Den sich
ändernden äusseren Lebensverhältnissen entsprechend, musste auch die Verwaltung eine andere
werden, sei es, dass sie sich in gewisser Beziehung modifizierte, sei es, dass neue Aufgaben an sie
herantraten. Es war nach der geschichtlichen Entwicklung fast selbstverständlich, dass nur eine
Instanz in Frage kommen konnte, der die Durchführung dieser Aufgaben zufallen konnte. Nur
das Parlament konnte dazu berufen sein, das die Fülle aller öffentlichen Gewalt in sich ver-
einigte und insbesondere auch die Zentralverwaltung infolge der parlamentarischen Regierung völlig
beherrschte. In Anknüpfung und Fortbildung des alten Petitionsrechtes und des uns gleichfalls
bereits bekannten Systems der Private Bill Legislation erfolgte diese Verwaltungstätigkeit des
Parlamentes in Form von Local Acts. Diese ganze Verwaltungstätigkeit des Parlaments ist also
formell nichts anderes als Gesetzgebung und die Tätigkeit der Lokalverwaltungsbehörden bleibt
wie bisher Ausführung von Gesetzen. Merkwürdig war nur und nach kontinentalen Begriffen
direkt widersinnig, dass die Tätigkeit des Parlaments in dieser Eigenschaft zugleich als richterliche
nach festen Formen und geregelter Prozessordnung erscheint, wenn bei einer Petition um Befriedi-
gung lokaler oder singulärer Verwaltungsbedürfnisse ein Widerstreit erworbener Rechte sich ergab.
Die gegen eine eingebrachte Private oder Local Bill eingelegten Gegenpetitionen wurden wie Prozess-
einreden behandelt und endgültig nach Anhörung der Beteiligten und nach besonderem mündlichen
Verfahren vor besonderen Kommissionen der beiden Häuser des Parlaments dem Plenum vorgelegt
und durch dieses entschieden. So erwuchs also der Lokalverwaltung nach Abschaffung der über-
geordneten Aufsichtsinstanz, abgesehen von der Rechtskontrolle der Gerichte eine neue in dem
Parlament, dessen Eingreifen allerdings, obwohl materiell und in der Wirkung eine Art übergeordneter
Verwaltungs- und Aufsichtsinstanz, formell nichts anderes als gesetzgeberische Tätigkeit war,
während die Ausführung der Gesetze völlig selbständig und ohne Beaufsichtigung von seiten des
Parlamentes durch die Lokalverwaltungsbehörden erfolgte. Die Selbständigkeit der Lokalbehörden
hing lediglich davon ab, inwieweit der Wortlaut des Gesetzes ihnen freie Hand liess oder nicht.
Dieses System stand am Ende des 18. Jahrhunderts auf der Höhe seiner Entwicklung. Vom
Gesichtspunkte des Gegensatzes von Zentralisation und Dezentralisation der Verwaltung aus be-
trachtet, erscheint es also wenigstens für das Gebiet der sog. inneren Verwaltung als vollkommenste
Dezentralisation. Eine Zentralverwaltung gibt es insoweit nicht. Die Friedensrichter, welche an
der Spitze der einzelnen Counties stehen, werden zwar von der Exekutive ernannt. Im übrigen
besteht ein Unterordnungsverhältnis nicht. Der Begriff der Ministerialverordnung und der Verfügung
ist dem englischen System unbekannt. Der Friedensrichter untersteht nur den Gesetzen, die aller-
dings, wegen des Fehlens einer übergeordneten Exekutive, vor allem in Gestalt der Private Bill
Legislation in fast unübersehbarer und verwirrender Zahl erlassen werden; die Kontrolle darüber,
dass der Friedensrichter wirklich bei der Verwaltung sich an das Gesetz hält, übt das ordentliche
Gericht aus, das freilich niemals selbst die Initiative ergreift, sondern erst auf Klage eines beliebigen
Berechtigten entscheidet.