Full text: Handbuch der Politik. Erster Band. (1)

Franz W. Jerusalem, Zentrelisation und Dezentralisation der Verwaltung. 187 
  
Möglich war ein solchesSystem wohl nur dadurch, dass im Staate nur eine einzige Klasse, die 
Gentry, herrschte, die naturgemäss im Parlament und in der Lokalverwaltung gleiche Ziele verfolgte, 
so dass grössere Konflikte zwischen Zentralgewalt und Lokalverwaltungsbehörden kaum auftreten 
konnten. Die Folge musste sein, dassmit der Demokratisierungdes englischenStaatslebens im 19. Jahr- 
bundert auch in diesem System tiefgreifende Modifikationen eintraten. Das war auch der Fall. 
Durch die völlige Umwälzung der wirtschaftlichen Verhältnisse, durch die schnell zunehmende 
Industrialisierung des Landes und die bereits erwähnte Demokratisierung entstand im ersten Drittel 
des 19. Jahrhunderts eine Reformbewegung, die auch die Lokalverwaltung ergriff und die auch heute 
noch nicht ganz abgeschlossen scheint. Das Prinzip der völligen Dezentralisation blieb zwar in 
Geltung; es erhielt aber gewissermassen eine neue Ausdrucksform in der Art, dass die Lokalver- 
waltung, die bisher durch die Person der Friedensrichter, die stets der Gentry angehörten, in Händen 
der herrschenden Klasse lag, nunmehr in weitestem Umfange demokratisiert wurde. Jede Graf- 
schaft wurde als Selbstverwaltungskörper anerkannt; die Verwaltung wird von dem County Council 
geführt, der auf Grund des allgemeinen, gleichen und direkten Wahlrechts gebildet wird und der 
wie die Friedensrichter in früheren Zeiten grundsätzlich unabhängig von jeder Einmischung einer 
übergeordneten Exekutive die Verwaltung der Grafschaft im Rahmen des Gesetzes führt. Auf dem 
gleichen Prinzip beruht die Verwaltung der der Grafschaft eingeordneten Verwaltungsbezirke, die 
teils ganz neu entstanden, teils wie die Kirchspiele aus früheren Jahrhunderten, wenn auch wesent- 
lich modifiziert, übernommen wurden; auch hier wird die Verwaltung von einem Council völlig 
selbständig geführt, das gleichfalls auf der Grundlage des allgemeinen, gleichen und direkten Wahl- 
rechts sich zusammensetzt. 
Von dem Prinzip der völligen Dezentralisation der Verwaltung, wie es das klassische „Self 
Government‘ ausgebildet hatte, hat aber die moderne Zeit eine ganze Reihe von mehr oder minder 
bedeutungsvollen Ausnahmen aufgestellt. 
Die Unzulänglichkeit der historischen Verwaltung Englands gegenüber den Bedürfnissen der 
modernen Zeit trat zum erstenmal in der Armenverwaltung zutage. Das Poor Law war denn auch 
zuerst Gegenstand einer umfassenden Reform und hier ist das Prinzip der Dezentralisation 
der Verwaltung völlig aufgegeben worden. Dem entsprechend wurde für die Armenverwaltung 
ein besonderes Zentralverwaltungsorgan geschaffen, das, als auch für andere Verwaltungs- 
aufgaben eine Zentralverwaltungsbehörde notwendig wurde, im Jahre 1872 zum Local 
Government Board, dem englischen Ministerium des Inneren, erweitert wurde. 
Durch die Gesetze, welche das Armenwesen reformierten, wurden, wenigstens materiell, für 
die Beziehungen zwischen Zentralinstanz und Lokalbehörden diejenigen Vorschriften erlassen, 
die auf dem Kontinent für die Beziehungen zwischen Ministerialinstanz und Provinzialbehörden in 
Geltung sind. Zunächst erhielt die Zentralbehörde das unumschränkte Recht der Untersuchung der 
Verwaltung in weitgehendstem Masse. Diese Befugnis zur Inquiry bedeutete allerdings nicht ein 
völlig neues Verwaltungsprinzip; seit jeher war dies Recht in Gestalt parlamentarischer oder könig- 
licher Unt hungsl iss] ausgeübt worden. Neu war nur die Permanenz dieses Unter- 
suchungsrechtes, das durch einen ständigen Kommissar des Zentralamtes, den Inspektor ausgeübt 
wird. Der Inspektor hat das Recht der Vernehmung der lokalen Verwaltungsbeamten und jedes 
beliebigen Staatsbürgers, darf Berichte fordern und kann eventuell die Aussagen unter Eid ver- 
langen; er hält auf diese Weise das Local Governement Board über die gesamte Verwaltung 
fortwährend auf dem laufenden. 
Dieses umfassende Recht zur Inquiry, das dauernd durch den Inspektor im Namen der 
Zentralbehörde ausgeübt wird, ist aber nur Mittel zu grösseren Verwaltungsbefugnissen. Zu 
diesen gehört zunächst eine allgemeine Verordnungsgewalt des Local Government Board. Damit 
war eine vollständige Neuerung geschaffen. Während wir bisher als Grundsatz des englischen Ver- 
waltungsrechtes kennen gelernt hatten, dass der Lokalverwaltungsbeamte lediglich dem Gesetz 
unterworfen ist, innerhalb dessen Rahmen er sich völlig frei bewegen kann, ist dieser Grundsatz 
für die Armenverwaltung zu gunsten des kontinentalen Prinzipes durchbrochen worden. Das 
Local Governement Board hat allerdings die im Poor Law gezogenen Schranken zu beobachten, in- 
dessen sind diese so allgemein gehalten, dass im weitesten Umfange ein diskretionäres Ermessen des 
Ministeriums möglich ist. Um jedoch eine ständige Kontrolle über die Ausübung dieser Verordnungs-
	        
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