Full text: Handbuch der Politik. Erster Band. (1)

350 Emil Stutzer, Staatsbürgerliche Bildung und Erziehung. 
es nicht an, auch steht dafür gar keine Zeit zur Verfügung, wie denn im allgemeinen die höhere 
Schule deshalb bei weitem nicht so viel leisten kann, wie man oft von ihr verlangt, weil sie zu viele 
Unterrichtsfächer betreiben muss und dadurch mit Zersplitterung und Verflachung bedroht wird. 
Aber soviel Zeit lässt sich in den oberen Klassen in der Regel erübrigen, dass schliesslich ein ziem- 
lich geschlossenes Bild unseres jetzigen Staatswesens entworfen wird. 
Ausser der Geschichte können andere Lehrfächer, namentlich Religion, Deutsch und Erd- 
kunde, zu staatsbürgerlichen Belehrungen verwendet werden, wenn sich die Gelegenheit dazu ganz 
ungezwungen findet. Alle Lesebücher, besonders die in den oberen Klassen, müssen auch staats- 
kundlichen Stoff bringen, und aus diesem Gebiete kann zuweilen eine Aufgabe für schriftliche 
kleine Klassen- oder grössere Hausarbeiten gestellt werden. Auch die kurzen sog. Schülervorträge 
d. h. möglichst frei gesprochenen Berichte über Gelesenes sind in den Dienst der staatsbürgerlichen 
Bildung zu stellen, namentlich wenn der Lehrer des Deutschen zugleich in Geschichte unterrichtet. 
Die Schule kann natürlich nicht alle Zöglinge zu gewandten Rednern ausbilden; denn die dazu 
erforderliche natürliche Begabung vermag auch der geschickteste Unterricht nicht zu ersetzen. 
Doch es ist sehr wichtig, dass möglichst viele schon als Schüler sich daran gewöhnen, vor der 
Klasse ohne Befangenheit kurze Vorträge zu halten. Solche regen die Selbsttätigkeit an und 
ermöglichen ein tieferes Erfassen der geschichtlichen Zusammenhänge und ihrer Bedeutung, 
schaffen auch eine dem Interesse am Unterricht sehr förderliche Abwechslung. 
Der zweite Weg der Einwirkung ist der auf die Empfindung. Verstandesmässig lässt sich 
Staatsgesinnung nicht beibringen, sondern nur durch die sittliche Erziehung, die das Gemüt er- 
greift. Einen Hauch von dem Geiste grosser, von echter Staatsgesinnung beseelter Persönlichkeiten 
müssen die Zöglinge so oft und so mächtig wie möglich verspüren; Ausserungen aus ihren eigenen 
Schriften oder Briefen sind mitzuteilen, z. B. aus Fichtes Reden, der die freiwillige Unterordnung 
des persönlichen Selbst unter das Ganze predigt. Je höher die Fassungskraft der Schüler, desto 
stärkere und nachhaltigere Eindrücke können erzielt werdendurch Anknüpfungderstaatsbürgerlich 
Belehrung an sittliche Lebensfragen. Doch die Absicht, ihn zu bestimmten Empfindungen an- 
zuleiten, darf der Zögling nie merken, damit er nicht „verstimmt‘ wird; vielmehr muss ihm die 
Überzeugung als eigene Errungenschaft erscheinen. Man kann echte Staatsgesinnung wecken, 
ohne dieses Wort jemals auszusprechen. 
Die dritte Art der Einwirkung, die derSchule zu Gebote steht, istdie aufden Willen. Auch leb- 
haftes Gefühl hat nicht immer das Wollen zur Folge, und Kenntnisse sind wie Waffen: es kommt 
ganz darauf an, zu welchem Zwecke sie geführt werden. Es gilt also, den Willen zu einer wahrhaft 
staatsbürgerlichen Behandlung aller Berufs- und Lebensfragen planvoll zu wecken, zu stärken 
und zu klären, je nach dem Alter der Schüler. Jede Schule ist ein Staat im kleinen, dessen sämt- 
liche Glieder sich bestimmten Vorschriften unterwerfen müssen. Gehorsam, Ordnungsliebe und 
Gewissenhaftigkeit sind die für die richtige Auffassung und Erfüllung der staatsbürgerlichen Pflichten 
besonders wichtigen Charaktereigenschaften; daran gewöhnt ja der Schulstaat durch Zwang, aus 
dem schliesslich die Überzeugung erwächst: es muss so sein, weil es nicht anders sein kann. Die 
Schulzucht wirkt also auf den Willen ein, und dies ist staatsbürgerliche Erziehung im besten Sinne. 
In ihren Dienst treten auch die Versuche mit Selbstverwaltung der Schüler, namentlich an den 
höheren Lehranstalten: Klassenämter werden durch Wahl besetzt, und über die Art der Bestrafung 
eines Mitschülers entscheiden solche Kameraden, die sich des allgemeinen Vertrauens würdig er- 
wiesen haben. Das Verantwortlichkeitsgefühl wird auch dadurch gehoben, dass sich einzelne Schüler 
an der Aufrechterhaltung der Ordnung in den Pausen, beim Turnen und bei den Spielen beteiligen. 
Solche Erziehung zum Führerberufe, die ein sehr wichtiger Teil der staatsbürgerlichen Erziehung 
gerade auf höheren Lehranstalten ist, muss man besonders denjenigen angedeihen lassen, bei denen 
man gute und echte politische Instinkte wahrzunehmen glaubt; doch täuscht man sichdabei leicht. 
Die Fach- und Fortbildungsschulen treiben in besonderen Lehrstunden Staatskunde mit 
sorgfältiger Stoffverteilung und nicht als gelegentliche Unterweisung; solche ist ausserdem möglich 
in verschiedenen Lehrfächern, namentlich in der Wirtschaftsgeographie sowie in der Handelskunde. 
Es kommt bei alledem darauf an, nicht gelehrtes Wissen, sondern Verständnis des Lebens zu ver- 
mitteln, also den Zusammenhang der Berufsarbeit des einzelnen mit dem Leben in der Gemeinschaft 
zum Bewusstsein zu bringen, «das Wer.en un: Wesen wichtiger Einrichtungen des öffentlichen
	        
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