‚Ernst Müller-Meiningen, Vereins- und Versammlungsrecht. >55
Zwecke gerichtet sind, oder wenn sie in der Generalversammlung die Erörterung von
Anträgen gestatten, oder nicht hindern, die auf öffentliche Angelegenheiten gerichtet
sind, deren Erörterung unter die Gesetze über das Versammlungs- und Vereinsrecht fällt;
. $ 62 RG., betreffend die Gesellschaften mit beschränkter Haftung, vom 20. April 1892,
in der Fassung der Bekanntmachung vom 20. Mai 1898 (RGBl. S. 846), wonach eine
Gesellschaft ohne Anspruch auf Entschädigung aufgelöst werden kann, wenn sie das
Gemeinwohl dadurch gefährdet, dass die Gesellschafter gesetzwidrige Beschlüsse fassen
oder gesetzwidrige Handlungen der Geschäftsführer wissentlich geschehen lassen.
1
Das Reichsgesetz vom 19. April 1908.
Endlich legte die Reichsregierung dem Wunsche fast aller Paıteien (mit Ausnahme der
Konservativen) folgend einen Entwurf eines Reichsvereinsgesetzes (Nr. 482 der Drucks. 12. Legisl.
Pr. I. Session 1907) dem Reichstage unterm 22. November 1907 zur verfassungsmässigen Beschluss-
fassung vor. Es wurden darin bewährte Bestimmungen der früheren landesrechtlichen Gesetze und
Verordnungen über das Vereins- und Versammlungsrecht — sämtliche Einzelstaaten mit Ausnahme
von Waldeck hatten solche — aufgenommen.
(Über die bisherige sogenannte freie Gesetgzebung vor allem Württembergs, Hessens und
Sachsen-Koburg-Gothas s. Müller und Schmidt S. 7 und 8. Ebendort auch Abdruck des Regierungs-
entwurfs und die parlament. Verhandlungen.) Das Gesetz wurde unterm 19. April 1908 veröffent-
licht (Reichsges. Bl. S. 151—157). Es trat am 15. Mai 1908 in Kraft.
A. Allgemeine Grundsätze.
Das Gesetz regelt ausschliesslich die öffentlich-rechtliche Seite des
Vereins- und Versammlungsrechts, die bier allein behandelt werden sol).
Hiervon bildet eine Ausnahme die Abänderung des $ 72 BGB., der aber wesentlich auf
dem Gebiete des öffentlichen Rechtes wirksam wird, duıch $22 des Vereinsgesetzes; sonst war eine
Einwirkung auf die privatrechtlichen Normen für Vereine und Versammlungen nicht beabsichtigt.
Mit Rücksicht auf die verschiedenartige Stellung der einzelnen Bundesstaaten zur Kirche
fallen nicht in den Rahmen des Gesetzes die landesrechtlichen Vor-
schriften über kirchliche und religiöse Vereine und Versammlungen,
über kirchliche Prozessionen, Wallfahrten und Bittgänge sowie über
geistliche Orden und Kongregationen, solange diese ihr eigentliches Gebiet nicht ver-
lassen. Da mit den sonstigen reichsgesetzlichen Vorschriften über Vereine und Versammlungen auch
der Art.68 derReichsverfassung, soweit er vereinsrechtlicher Natur ist (s.oben),in Kraftbleibt, kann
der Kaiser auch in Zukunft für das Reich (ausgenommen Bayern, Bündnisvertrag vom 23. Noveinber
1870 unter III $5 und Schlussprotokoll von demselben Tage) oder einen Teil des Reichs bei Erklärung
des Kriegszustandes unter Aufhebung der entsprechenden reichsgesetzlichen Vorschriften jede
Beschränkung oder Aufhebung der Vereins- oder Versammlungsfreiheit verordnen. Ausserdem
bleibt den Bundesstaaten auch fernerhin die Möglichkeit der Erklärung des Belagerungszustandes
mit Wirkung auf das Vereins- und Versammlungsrecht gewahrt; es ist deshalb ein entsprechender
Vorbehalt in $ 16 des Gesetzentwurfes aufgenommen worden. Für Bayern greifen die landesgesetz-
lichen Bestimmungen ohne weiteresPlatz. Endlich lässt das Gesetz die landesrechtlichen Vorschriften
zum Schutze der Feier der Sonn- u:id Festtage unberührt, trägt aber durch die gewählte Beschrän-
kung den Interessen des Versammlungsrechts und tunlichster Rechtseinheit Rechnung. (S. unten
sub. 14.)
Der Anregung, bei dieser Gelegenheit auch eine Regelung des sogenannten Koalitions-
rechts vorzunehmen, ist das Gesetz nicht gefolgt, daeshiermiteindemeigentlichen Vereins- und Ver-
sammlungsrechte formell und materiell ungleichartiges Rechtsgebiet betreten hätte. Die Vor-
schriften der $$ 152, 153, 154a Gew.O., die von den Befugnissen der darin genannten Personenkreise
in bezug auf Verabredungen und Vereinigungen zum Behuf der Erlangung günstiger Lohn- und
Arbeitsbedingungen handeln, werden daher durch das Gesetz nicht berührt.