Fritz van Calker, Rechtspolitik. 13
subjektiv gültigen Urteilen prinzipiell erhabenen Wertung zu gelangen, im oben entwickelten Sinn
die Aufweisung der dem konkreten Gebiet der rechtlichen Regelung entsprechenden Rechtsgedanken,
die sie als politische Forderungen (,Postulate der Politik‘ — Stammler?) an das vorhandene
Material heran zu bringen bat. Damit wird nun natürlich keine Zauberformel gegeben werden
können, die für alle Fälle eine von vorneherein zweifelsfreie und sofortige Entscheidung ermöglichte.
Wohl aber kann durch die Aufweisung und Anerkennung von Grundgedanken des Rechts als ob-
jektiv richtigen Prinzipien der Beurteilung für diese Beurteilung die Möglichkeit einer Orientierung
unter einheitlichen Gesichtspunkten gewonnen werden und damit — was oben als Ziel der. Rechts-
politik angegeben wurde — die Ersetzung der nur gefühlsmässigen Entscheidung durch eine Ent-
scheidung, welche sich auf verstandesmässig erfassbare und kontrollierbare Erwägungen gründet.?)
In solchem Sinn fordert die Rechtspolitik die Aufsuchung und bewusste Bewertung
der dem „Rechtsgefühl“ zugrunde liegenden Rechtsgedanken.
Die Ausprägung der Rechtsgedanken in einzelnen Rechtssätzen ist dann Aufgabe der Ge-
setzgebungspolitik, die für ihre Formulierung in den Regeln der legislativen
Technik die „formale Vollendung des gegebenen Rechtsstoffes‘ (Wach) suchen muss.‘
IV. Rechtspolitik und Rechtsanwendung.
Die Rechtspolitik wendet sich aber auch an den Richter. In zweifacher Weise wird der
Richter dazu veranlasst, das Gebiet der Rechtspolitik zu betreten. Einmal dann, wenn die vor-
handene Gesetzgebung ihm für die zu fassende konkrete Entscheidung keine positiven Regeln zur
Verfügung stellt, in dieser Richtung vielmehr eine Lücke aufweist. Hier muss der Richter durch
eine rechtspolitische Erwägung für den konkreten Fall diese Lücke ausfüllen, d. h. er hat sein Urteil
nach der Regel zu sprechen, die er als Gesetzgeber für den konkreten Fall aufstellen würde. Es
empfiehlt sich für den Gesetzgeber, diese Verweisung dem Richter gegenüber im Gesetz ausdrück-
lich auszusprechen, wie dies z. B. in Art. I des Schweizerischen Zivilgesetzbuches ge-
schehen ist.®)
Aber noch in anderer Weise wird der Richter bei der Rechtsanwendung auf rechtspolitische
Erwägungen gewiesen: dadurch nämlich, dass eine Bestimmung des Gesetzes für die Entscheidung
auf Grundsätze verweist, welche im Gesetz nicht positiv zum Ausdruck gebracht sind, sich viel-
mehr aus den Grundgedanken des Gesetzes ergeben und letztlich zumeist in ethischen Werturteilen
ihre Grundlage haben. Beispiele solchen Vorgehens bieten die Gesetze insbesondere in der Ver-
weisung auf „billiges Ermessen‘, auf „Treu und Glauben“, auf die „guten Sitten‘. Auch hier muss
der Richter die ethischen Grundgedanken des Gesetzes aufsuchen und diese dann seiner Ent-
scheidung zugrunde legen, und es genügt nicht, etwa einfach darauf zu verweisen, dass die kon-
krete Entscheidung der „Billigkeit entspreche‘.*)
%) Stammler führt als solche allgemeine Postulate der Politik, — Lehre vom richtigen Recht S. 301 —
un: die Postulate der Rechtssicherheit, der Persönlichkeit, der allgemeinen Fürsorge, und des Masses.
2) Petrazycki, a. a. O. Bd. IS. 328 sieht die hohe Bedeutung der Zivilpolitik darin, dass diese „Jen
Mechanismus der Sozialordnung in einzelnen Sätzen und in ihrem Zusammenhang analysiert, die soziale Bedeu-
tung und Wirkung der zivilrechtlichen Begriffe, Institute und Sätze feststellt, die Kritik der Zivilgesetze liefert,
diejenigen Sätze, deren Wirkung auf das Soziallebenschädlich ist, rügt und Postulate, deren Verwirklichung durch
die Gesetzgebung von Nutzen wäre, aufstellt.“
4) S. dazu Waoh, „Legislative Technik“ in der Vergleichenden Darstellung des
Deutschen und Ausländischen Strafrechte. Allgem. Teil Bd. VI. 1908.
s) S. hierzu E. Huber.a.a. O. S. 36 ff.
*) S. hierzu Petrazyoki Bd. U. S.507. „Wenn wir einen Rechtssatz nicht anders rechtfertigen können,
als dadurch, dass wir behaupten, er entspreche der Billigkeit, so sprechen wir geradezu aus: „Wir können nicht
sagen, warum das Gesetz angeraten ist, wir fühlen aber instinktiv, dass es ein gutes Gesetz ist.‘ Eine Billigkeits-
erwägung ist eigentlich keine Erwägung im Sinne der logischen Verarbeitung von Begriffen und Sätzen und Ge-
winnung von logischen Schlüssen, sondern vielmehr Konstatierung des Vorhandenseins eines Gefühles oder eines
instinktiven Triebes.‘