Full text: Handbuch der Politik. Erster Band. (1)

Max Fleischmann, Die materielle Gesetzgebung. 273 
I. Wesen und Bedentung des Gesetzes. 
Das gleich Bleibende in: der Erscheinungen Flucht, die Regeln, nach denen sich die Vorgänge 
in der belebten und unbelebten Natur entwickeln, das Seiende, sowohl wie das Sollende, die 
Weisungen, nach denen der Mensch sein äusseres Verhalten einzurichten hat — in beiden Fällen 
spricht man von „Gesetzen“. Seine ursprüngliche Bedeutung zeigt das Wort im letzteren Sınne, 
die mit einer Einwirkung auf den menschlichen Willen rechnet, während Gesetze der Sprache 
oder der Wirtschaft oder der Geschichte (Rümelin: 1878), während Naturgesetze oder die 
Gesetzmässigkeit im Gesellschaftsleben (v. Mayr: 1877) oder in den scheinbar willkürlichen 
menschlichen Handlungen (A. Wagner: 1864) durch Beobachtung des mit Notwendigkeit Wieder- 
kehrenden gewonnen werden.?) 
1. Der Wortsinn weist beim Gesetze zunächst nur auf Bestimmungen hin, die in irgend 
einer Weise aufgestellt worden sind, ohne dass etwas mehr erfordert wird als das Wort, 
das einen festen Stand, eine Bindung bewirkt. Es ist nicht notwendig ein einseitiger Akt darunter 
zu verstehen.. Auch der Vertrag d. i. die Einigung der Beteiligten über ein Verhalten, wird zum 
„Gesetz“ der Parteien (lex contractus). Doch ist dem Sprachgebrauche der Gegenwart der „Ver- 
trag als Gesetz‘ nur wenig geläufig, höchstens in einer übertragenen oder eingeschränkten Ver- 
wendung, insofern das Abkommen nicht zwischen Privatpersonen, sondern zwischen Staaten 
besteht, für den internationalen Vertrag; die Anerkennung des „internationalen Gesetzes“°) bleibt 
einer künftigen Zeit vorbehalten. Auf die gleiche oder ähnliche Wirkung ist es hier abge- 
stellt. Und so ist es nicht unverständlich, wenn die Sprache des gewöhnlichen Lebens heut bei 
der Arbeitsordnung für Fabrikbetriebe oder bei Tarifverträgen, also in Fällen, wo zwischen ge- 
wissen Machtfaktoren ein Gleichgewicht hergestellt werden soll, zu der Bezeichnung als „Ge- 
setzen‘ neigt. Das gewerbliche Leben gewinnt einen konstitutionellen Einschlag. 
Doch ein wesentlicher Unterschied bestimmt die Grenze für das „Gesetz‘‘ — die Energie 
der Satzung, die um so stärker ist, je unabhängiger sie hingestellt werden kann, je weniger sie in 
ihrer Aufrichtung von einem Zusammenwirken mehrerer und mit verschiedenen Interessen Be- 
teiligter abhängt. Es war deshalb z. B. wohlbedacht, wenn das preussische Gesetz vom 10. Juni 
1854 die Wiederherstellung der Vorrechte der mittelbar gewordenen deutschen Reichsfürsten und 
Grafen „durch königliche Verordnung‘ bestimmte, und begreiflich war der Widerspruch des Ab- 
geordnetenhauses gegen die trotzdem durch „Rezesse‘“ mit den Mediatisierten vorgenommene 
Regelung. Das Gesetz war seit Alters für den Einzelwillen (unvermeidlich dann auch zu- 
weilen den Eigenwillen) des Machthabers im Staate kennzeichnend: quod prineipi placuit, legis 
habet vigorem. Mochte dies die Gesamtheit der Untergebenen betreffen — als Staats- 
gesetz — oder nur die Mitglieder der regierenden Familie — Hausgesetz —. Dass ein Macht- 
bereich auch durch die Zugehörigkeit zu einer Bekenntnisgemeinschaft gegeben sein kann, kommt; 
in der Bezeichnung „Kirchengesetz“ zum Ausdruck.*) Zur Zeit versteht man unter dem 
Gesetz schlechthin das Staatsgesetz; von diesem allein soll deshalb hier die Rede sein. 
Über Abstufung und Abgrenzung „Reichsgesetz“ — „Landesgesetz“ vgl. unten Ziff. 4. 
2. Das Gesetz dient der Ordnung unter den Menschen und teilt zu dem Zwecke 
dem einzelnen seine Herrschaftsmöglichkeit über Person und Sache zu. Das Gesetz trifft damit 
im wesentlichen die „Freiheit der Personen oder das Eigentum der Staatsangehörigen“ (so z. B. 
die bayerische Verfassungsurkunde vom 26. Mai 1818, Titel VII $2.°) Und die Einwirkung 
3) JetztBreysig, Stufenbau und Gesetze der Weltgeschichte 1905; Franz Eulen burg, Über Gesetz- 
nässigkeiten in der Geschichte (Archiv für Sozialwissenschaft und Sozialpolitik, Band 35, 1912 S. 299 £.). 
)L. Oppenheim, Die Zukunft des Völkerrechts (Festschrift für Binding 1911, II 163). Inzwischen 
betrachtet sich die Interparlamentarische Konferenz als Zentralstelle für alle Pläne zur Schaffung internationaler 
Gesetze (18. Tagung, Haag 1913). 
*) Allgemein sei verwiesen auf Ernst Meier, die Rechtsbildung in Staat und Kirche 1861, allerdings 
mebr für das Grundsätzliche als für das noch geltende Recht. 
®) Die Formel ist nicht erschöpfend, wird aber typisch; vgl. z. B. die preussische Verordnung über die zu 
bildende Repräsentation des Volkes vom 22. Mai 1815 $4, Grundgesetz für Saohsen-Weimar vom 15. Oktober 1850 
Handbuch der Pollik. II. Auflage. Band I. 18
	        
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