Full text: Handbuch der Politik. Erster Band. (1)

74 Max Fleischmann, Die materielle Gesetzgebung. 
  
hierauf geschieht in Massnahmen wie sie der römische Jurist in die oft gebrauchten, 
wenn auch nicht die gesamte Gesetzesmacht umspannenden 6) Worte kleidet: legis virtus 
haec est imperare, vetare, permittere, punire. Das Gesetz stützt sonach die Aufgabe des Rechtes, 
und sein Inhalt erschöpft sich der Idee nach in der Schaffung (Anderung, Beseitigung) eines 
Rechtszustandes. „Gesetz und Recht‘‘ werden darum schon frühe — bei den Römern nicht minder 
als auf deutschem Boden — als Synonyme oder als formelhafter Typ verwendet (als Beispiel der 
vorkonstitutionellen Zeit $ 60 Einleitung des preussischen allgemeinen Landrechts von 1794). 
Ordnung schaffen wirkt in nicht voraussehbare Ferne. Nur selten wird sich das Setzen 
einer Ordnung an einem zur Entscheidung vorliegenden, zu einer Entschliessung des 
obersten Staatsorganes Anlass gebenden Falle erschöpfen. Die Tätigkeit des Gesetzgebers 
und des Richters liegen allerdings in früher oder doch nicht schon zu grundsätzlicher Scheidung 
in den Gewalten neigender Zeit noch beieinander; zur Verdeutlichung: die „Richter“ im Alten 
Testamente, die römischen Kaiser und die Päpste in ihren Reskripten — nicht ohne Interesse ist 
die Beobachtung, dass die grossen Verfassungsakte in England ihre Bezeichnungen dem Prozesse 
entlehnen: petition, declaration (Klagegrund), bill (Klageantrag).’) Privilegien sind der Vorläufer 
allgemeiner Regelung. Doch entspricht dies wenig dem Wesen einer „Regel“ als einer weiterhin 
wirkenden allgemeinen Richtschnur; es verlockt vielmehr die Verwischung der unterscheidenden 
Merkmale, wie die Geschichte lehrt, zum Versuche, von hoher Hand in die Verhältnisse des einzelnen 
einzugreifen (Privilegien als Seitenstücke oder Ausfluss der Kabinettsjustiz). Ein Vorgang aller- 
dings trägt seinem Wesen nach den Stempel der Regelung eines blossen Einzelfalles, d. ı. die Aus- 
nahme von der Regel des Gesetzes, der Dispens. Rechtspolitisch ist die Dispensation eine nicht 
unbedenkliche Erscheinung (Steuern!), wenn man den Wert gesetzlicher Regelung in dem gleichen 
Masse für alle erblickt. Eine Anerkennung dieser Auffassung liegt in gesetzlicher Regelung, wie sie 
z. B. $6 der neuen Landschaftsordnung für das Herzogtum Braunschweig vom 12. Oktober 1832 
enthält: „Der Landesfürst kann in einzelnen Fällen Dispensationen von den gesetzlichen Vor- 
schriften erteilen, jedoch, insofern dritte Personen wegen ihrer Rechte beteiligt sind, nur mit deren 
Zustimmung‘. Indessen ist auch dies im konstitutionellen Staate kein Satz mit allgemeiner Geltung. 
Freilich kann die Notwendigkeit einer Zulassung von Ausnahmen mit der allgemeinen Regelung 
von selbst gegeben und vorauszuschen sein (z. B. für Ehehindernisse, Bauvorschriften): hier ist 
es dann Aufgabe des Gesetzgebers, durch Zuteilung der Prüfung und Entscheidung über die Aus- 
nahme an ein nachgeordnetes Organ für eine Regelung Sorge zu tragen, die — mit den gehörigen 
Schutzmassnahmen — die Sache ein für alle mal bestimmten Verwaltungsinstanzen zuweist. 
Die Zeit des Absolutismus trug bei dem Zusammenfliessen der Funktionen des Gesetzgebers 
und des höchsten Exekutivorgans in der Person eines Machthabers wenig Bedenken, auch über 
Einzelfälle durch „Gesetz“ zu bestimmen. In der konstitutionellen Zeit dagegen ist die Regelung 
eines einzelnen Falles selten geworden und wird selbst bei einleuchtendem Grunde (Ausdehnung 
des gesetzlichen Schutzes für Richard Wagners „Parsifal‘“ ?) vermieden. Doch fehlt es auch hier 
nicht ganz an Beispielen.3) 
$ 4 2. 6. Aufklärung über die Geschiohte der Freiheit- und Eigentumsformel bringt jetzt Franz Rosin, 
Gesetz und Verordnung nach badischem Staatsrecht 1911, S. 15—61; ausserdem Hubrich im Verwaltungs- 
archiv Band 17. 1909, S. 48, 57. 
°) Versprechen in einem Gesetze, ein Gesetz zu erlassen, lassen sich nicht ungezwungen darunter bringen. 
”) Hatsohek, Englisches Verfassungsrecht I 243. 
.,d Beispiele aus konstitutioneller Zeit: das Bundesgesetz vom 21. Juli 1870 über die Verlängerung der 
Legislaturperiode des damals tagenden Reichstages; das preussische Gesetz über die Versorgung der hinter- 
blioebenen beiden Kinder des ermordeten Polizeirates Rumpff (je 2745 M. jährlich) vom 17. April 1885 (Ges. 
Samnl. $, 116). Das G. v. 12. 6. 1892 (G.-S. 127) über die Regulierung der gutsherrlichen und bäuerlichen Ver- 
haltnisse in Neuvorpommern und Rügen konnte nur noch für 2 Bauerngüter praktisch werden | 
Anderseits: die bayrische Regierung entschied sich bei der Frage der Aufhebung der Regentschaft in dem 
Verfassungsgesetze vom 5. November 1913 für die allgemeine Regelung. In Preussen scheiterte 1854 ein Gesetz- 
entwurf auf Verlängerung des Schutzes für Schillers Werke (das billigte Jacob Grimm 1859, Kleinere Sohriften 
)
	        
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