Full text: Handbuch der Politik. Erster Band. (1)

98 Max Fleischmann, Die materielle Gesetzgebung. 
  
Die Gefahr, dass der Richter mit dem letzten Worte im Staatsleben auch die Herrschaft 
darin hätte, blieb den grossen Gesetzgebern nicht verborgen, die Vorkehrung trafen, dass die letzte 
Entscheidung wieder in die Hand des Gesetzgebers zurückfiele. Dem Gesetz als Herrscherwort 
droht Gefahr aber auch vom Interpreten; darum in früherer Zeit das Verbot von Kommentaren 
oder die Einschränkung der Interpreten (patentierte Juristen, die congregatio concilii Tridentini 
interpretum). Ein Umschwung in dieser Auffassung war erst politisch gefesteter Zeit vorbehalten, 
die den Träger der Staatsgewalt nicht mehr argwöhnisch sein lässt gegen jede Regung, die als eine 
Verschiebung der Machtgrenzen gedacht werden könnte. 
1. Das Prüfungsrecht. 
Im absoluten Staate mehren sich die Anordnungen bestimmter Verkündungsformen 
gerade für das „Gesetz“, und es wird eingeschärft, dass man nur diese Erlasse als „Gesetze“ 
betrachte. Verlangt oder erwartet wird also eine Prüfung der Authentizität.) Sie beschränkte 
sich und konnte sich beschränken auf Art und Ort der Verkündigung. Anders ist die 
Stellung des Zugehörigen zum modernen Staate gegenüber den Massnahmen der Staatsgewalt. 
Es entspricht dem Anteile, den heut die Bevölkerung an der Bildung des staatlichen Willens hat, 
dass sie auch nach allen Richtungen prüfen kann, o b eine obrigkeitliche Massnahme ein Gesetz 
sei. Das erschöpft sich nicht in der Beobachtung der Formalien; denn Gesetz ist eben nur das, 
was durchweg den Anforderungen Rechtens entspricht. Da kommt ausser der Verkündung 
auch noch anderes aus dem Hergange der Gesetzgebung in Frage (Stimmenverhältnis, Öffent- 
lichkeit der Sitzung, Abstimmungsformen); ferner aber z. B., ob der Gliedstaat nicht die Grenzen 
seines Machtbereiches überschritten und in die Zuständigkeit des Reiches eingegriffen habe; schwer- 
lich, immerhin aber nicht ausgeschlossen, ob das Reich nicht die selbstgesteckten Grenzen über- 
schritten habe. Das hat jeder zu prüfen, den es angeht, im Streitfalle also die zur Entscheidung 
berufenen Organe. Darum spricht man a potiori von einem richterlichen Prüfungsrecht. Es besteht 
überall, wo es nicht vom Gesetze ausdrücklich ausgeschlossen ist. Dadurch, dass einem an der 
Gesetzgebung beteiligten Organe eine Pflicht zur Prüfung des ordnungsmässigen Gesetzesvorganges 
auferlegt ist, wenn man dies auch mit Laband bezüglich der Reichsgesetze für den Kaiser (Aus- 
fertigung) annehmen kann, wird an dieser Rechtslage nichts geändert. Ebensowenig durchschlagend 
ist die Befürchtung, dass aus einer Zulassung der Prüfung eine unabsehbare Verwirrung, ein Siuken 
der Achtung vor dem Gesetze, wie in den Vereinigten Staaten von Amerika, die Folge sein müsste. 
Der praktische Gesichtspunkt darf gewiss nicht bei einer grundsätzlichen Untersuchung ausge- 
schaltet werden. Aber er wird bei einer Abwägung der inbetracht kommenden Werte als der mindere 
erscheinen. Die Befürchtung wird übertrieben. In den Vereinigten Staaten von Amerika stehen 
allerdings zahlreiche Gesetze auf dem Papiere, unbeachtet oder mit Erfolg umgangen. Das hat aber 
nichts mit dem richterlichen Prüfungsrechte zu tun, sondern ist der Rückschlag gegen die dort 
eingerissene Überernährung mit Gesetzen (vgl. unten Anm. 52), für die die richterliche Nachprüfung 
im Lande selbst gemeinhin als das erwünschte Gegengewicht betrachtet wird. Die Erfahrungen 
in Deutschland stützen die Befürchtungen keineswegs, dass quivis ex populo den Gang der Staats- 
maschine lahm legen oder die Staatsgewalt diskreditieren könnte. Selbst die radikalen Parteien 
sind im Reiche auf dieses Mittel nicht verfallen. Und auch bei der Nachprüfung von Polizeiver- 
ordnungen durch den Richter lässt sich ein Sinken der Achtung vor diesen Normen, auch wenn sie 
hin und wieder für nicht rechtswirksam erkannt werden, nicht beobachten. 
Nur wo das Gesetz selbst einen Riegel vorschiebt, z. B. in Preussen nach Art. 106 der VU., 
in Oldenburg nach Art. 141 $ 2, wird man diesen „absolutistischen Rest‘ hinnehmen müssen — 
ein Zeichen aber auch, dass man es für nötig hält, wofern die Einschränkung gelten soll, sie aus- 
drücklich zu bestimmen. 
Die praktische Bedeutung der Frage?!) ist unter normalen politischen Zeitläuften gegenüber 
Gesetzen (anders Verordnungen) nicht erheblich. Theoretisch, für die Gewaltenverteilung im 
Staate, wird die Frage zum Angelpunkte. 
2) Vgl. Fleischmann, der Weg der Gesetzgebung in Preussen 1898 Seite 66. 
?t) Sie ist ausserordentlich häufig erörtert (vgl. die Schriften bei Meyer-Anschütz $$ 173, 179), 
nicht obne Einfliessen politischer Momente. Eiust erfasste sie Männer mit schon begründeten wissenschaftlichen
	        
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