Max Fleischmann, Die materielle Gesetzgebung. 383
verfahren, Stellvertretung des Landesherren, Amtshilfe zwischen Behörden, gemischte wirtschaft-
liche Unternehmungen oder das sogenannte internationale Privatrecht. ...
Zur Ausfüllung solcher und mancher anderer Lücken im Rechte muss der Richter weiter aus-
greifen. Schon das österreichische bürgerliche Gesetzbuch von 1811 ($ 7) verwies ihn auf die „natür-
lieben Rechtsgrundsätze‘‘.30) Und, kaum deutlicher, schreibt das Schweizerische Zivilgesetzbuch
vom 10. Dezember 1907 in Art. 1 vor: „Das Gesetz findet auf alle Rechtsfragen Anwendung, für
die es nach Wortlaut oder Auslegung eine Bestimmung enthält. Kann dem Gesetze keine Vorschrift
entnommen werden, so soll der Richter nach Gewohnheitsrecht und, wo auch ein solches fehlt,
nach der Regel entscheiden, die er als Gesetzgeber aufstellen würde. Er folgt dabei be-
währter Lehre und Überlieferung.‘3!) Diese Rolle des Richters als Gesetzgeber kommt ihm auch
zu, wo dies nicht wie hier ausdrücklich lehrhaft ausgesprochen ist. Eine Willensentscheidung des
Richters zur Ausfüllung der Lücken des Gesetzes (neben den Werturteilen, vgl. Rümelin) hat der
Gesetzgeber stillschweigend in seinen Willen aufgenommen, weil es die Ordnung der menschlichen
Verhältnisse so erheischt. Anderenfalls müsste man ein ausdrückliches Verbot von ihm erwarten.
Soisteine analoge Strafsatzung ausgeschlossen, weil auf diesem Gebiete Schwankungen
in der Erstreckung besonders empfindlich wirken würden. Hiermit ist jedoch keineswegs eine
jede ins Strafrecht einschlagende Analogie oder noch freiere Ausfüllung einer Lücke verwehrt 32);
sie macht sich erforderlich z. B. für die Umwandlung von Geldstrafen in Freiheitsstrafen, wenn bei
einer Abzahlung ein Rest ungedeckt ist, der unter dem gesetzlichen Mindestmasse für die Um-
wandlung verbleibt. Unterstützen mag ein Blick auf das internationale Recht, wie es in dem Haager
Abkommen über die Errichtung eines Prisenhofes (1907) Art. 7 Abs.2 formuliert ist:33) Si des regles
gen6ralement reconnues n’existent pas, la cour statue d’apres les principes generaux de la justice et
de P’Equite.
Wo es an einem Richter fehlt, kann freilich die Ausfüllung der Lücke unmöglich werden.
Man denke etwa an die Zweifelsfrage über die Gegenzeichnung bei der Entlassung eines Ministers.
Solche Schwierigkeit zeigen letztens wieder die Vorgänge bei der Lösung der Union zwischen Schweden
und Norwegen, als das norwegische Ministerium im Jahre 1905 seine Entlassung nahm und der König
Oskar keine Minister fand, die die Verantwortung für seine Ablehnung der Sanktion des Stortings-
beschlusses über ein eigenes norwegisches Konsulatswesen übernehmen wollten.#) Gerade in dieser
Gruppe rechtlicher Erscheinungen wird man das Auge dagegen nicht verschliessen können, dass es
sich hier unter Umständen gar nicht mehr um eine Lücke, sondern um eine notwendige Grenze
des Rechts handelt.35)
4. Freiheitdes Richtersgegenüberdem Gesetze?
Oft wiederbolt ist jener in das corpus juris canonici (ec. 3 D 4) aufgenommene Ausspruch des
hl. Augustinus: In temporalibus legibus, quamquam de his homines judicent, cum eas instituunt,
tamen cum fuerint institutae et firmatae, non licebit iudici de ipsis iudicare, sed secundum ipsas.
Der Absolutismus der Aufklärungszeit hat das übertrieben; ein Argwohn gegen die malitia iudicum
wirkte nach, bis in die Gesetzgebung der französischen Revolutionszeit hinein.35*) Er hat für den
mässig begabten Richter, auf den man allein rechnen könne, mit dem Gesetze einen Urteilsschrank
schaffen wollen, in dessen Fächern möglichst für jeden Fall die Lösung stecke. Die Gegenwart
ist davon längst abgerückt. Sie richtet nur den Wegweiser auf für den mit dem Gemeingut der
?%) Hierzu jetzt in der Festschrift zur Jahrhundertfeier des (österr.) Allg. Bürgerl. Gesetzbuchs 1911 die
Beiträge von Dniestrzanski (Band II S. 1) und Wellspacher (Band I S. 173).
%) Dazu die Erläuterungen zum Vorentwurf des Eidgenössischen Justiz- und Polizeidepartements I 1901
S.37 und Eugen Huber, Bewährte Lehre (im Politischen Jahrbuch der Schweizerischen Eidgenossenschaft 1911).
%) Entschieden Rumpf auf dem 3. deutschen Richtertag 1913 (Deutsche Richterzeitung V 779 f.);
Spiegel, Gesetz und Recht 8. 56.
%) Allerdings nicht ohne Bedenken (Ullmann, Zeitschr. für Völkerrecht VII 348).
%#) Aallu. Gjelsvik, die norwegisch-schwedische Union, ihr Bestehen und ihre Lösung, 1912 $ 4l.
) Hierfür beachtenswerte Gründe Kaufmann, S. 139.
Ss) Redslob, Die Staatstheorien der französischen Nationalversammlung, 1912, Kap. 10.