Max Fleischmann, Die materielle Gesetzgebung. 285
das Recht zu finden, nicht zu erfinden,“ — wir wollten denn einen Absolutismus des Richtertums
aufrichten, der gewiss im einzelnen Falle auch der Sache zum Segen dienen könnte, insgesamt aber
bei der Vielheit der hier wirksam werdenden Instanzen. in der Unsicherheit des Rechtsstandes und
in dem anwachsenden Misstrauen gegen die Justiz nurschlimmere Gefahren noch als der Absolutismus
des Gesetzes oder des Gesetzgebers in sich bergen würde. Wo die Verfassung eines Landes, wie in
den Vereinigten Staaten von Amerika, dem Richter eine weitgehende Macht gegenüber dem Gesetze
einräumt, da haben sich auch die Vorwürfe der Volksschichten, die sich durch den Urteilsspruch
beeinträchtigt glauben, gerade gegen die Justizverwaltung, als wäre sie die eigentliche Trägerin der
souveränen Gewalt der Nation, erhoben. 38)
Das Aufbrausen beginnt unbefangener Einschätzung zu weichen. Die mittlere Beurteilungs-
linie einer gesetzestreuen Jurisprudenz, die weder auf ein blosses Subsumieren beschränkt noch
zu schrankenlosem Ermessen berufen ist, wohl aber zur „sinngemässen Gebotsergänzung‘“ (Heck),
ist auch geeignet die Richtungsgegensätze ausgleichen. Dem Windstoss gleich, der die Tür auf-
schlägt, wenn’s so trifft, auch ein Fenster einstösst, ungeberdig, wo sich der Widerstand entgegen-
wirft, so zog die Freirechtsbewegung hin. Er hat die Luft gereinigt, und das ist nicht wenig: denn
sie war stockig geworden und eine Wand von Missverstehen schob sich zwischen eine Praxis, die
unbewusst einem unmessbaren Rechtsgefühle sich zuwandte, und eine Theorie, die sich noch grund-
sätzlich ablehnend hielt, nach einem Massstabe zu suchen für die auf Anerkennung dringenden
neuen Werke. Indes schon der Vorstoss, von verschiedenen Seiten und mit verschiedenen Mitteln
geführt, hat in mancher Hinsicht freier gegenüber dem Gesetze gestellt, als es in Deutschland üblich
geworden war, hat sch die Notwendigkeit ersehen lassen, das Gesetz darnach zu formen, dass
der Richter einen kräftigeren Rückhalt habe bei dem Suchen sachgemässer Entscheidung, die es
nicht dabei bewenden lässt, von dem Gesetze nur auszugehen, die immer darauf achtet, auf welche
Wirkung sie ausläuft — der Richter ist des Gesetzes Diener, nicht sein Sklave.
III. Gesetzgebungspolitik.
Die Frage nach der besten Gesetzgebung hat das 18. Jahrhundert vielfältig beschäftigt.39)
Sie steht da in engem Zusammenhange mit den breiten Erörterungen über die beste Art, die Glück-
seligkeit der Untertanen durch die Staatsgewalt zu befördern. Als Mittel erscheint das allmächtige
Gesetz. Montesquieus , Esprit des lois‘‘ wurde nicht mit scheuer Achtung nur genannt, wie es heut
geschieht, sondern wie ein pädagogischesWerk in breiten Schichten, vor allem auch in den höfischen
Kreisen gelesen.?0) Die Wirkungen sind vielfältig genug in den Kodifikationen des 18. Jahrhunderts
zu spüren. Die Aufklärungszeit zeigt deshalb auch die ersten Versuche einer theoretischen Gesetz-
gebungspolitik®!), und zwar nicht bloss nach der sachlichen, sondern schon auch nach der formellen
:2) Vgl. die sozialistische Zeitschrift ‚,Neue Zeit‘ vom 12. 11. 1909 S. 242, 245; auch Loewy, Archiv
für Sozialwissenschaft 1906 S. 721.
3%) Die ideale Anforderung an den Inhalt des Ge:etzesmöchte schon das corpus juris canonici —inc2D4—
ausdrücken: Erit lex honesta, justa, possibilis, secundum naturam, secundum patriae consuetudinem, loco
temiporique conveniene, necessaria, utilis, manifests quoque ne aliquid per obsouritatem in captionem
contineat, nullo privato commodo, sed pro communi civium utilitate conscripte.
%®) Andreae, Beiträge zur Geschichte Katharinas II. 1912 S. 19—26. Die programmatische Erklärung
der Kaiserin in der Instruktion für die Gesetzeskommission von 1767: ‚Gott verhüte, dass nach Beendigung unserer
Gesetzgebung ein Volk auf Erden gerechter und folglich glücklicher sei als das unsrige. DerZweck unserer Gesetze
würde dann verfehlt sein, ein Unglück, das ich nicht zu überleben wünsche.‘ Darüber die spöttischen Bemer-
kungen bei v. Haller, Restauration der Staatswissenschaft 1816 I 176.
4a) Vgl. Filangieri, scienza della legislazione 1780/1788, Bent ham, introduction to the prineiples
of moral and lezislation 1789 (dazu v. Mob, Geschichte u. Literatur der Staatswissensch. III, 1858 S. 610612).
K.S.Zachariae, die Wissenschaft der Gesetzgebung 1806. Dagegen erscheint 1837 eine ‚‚systematische Dar-
stellung der Gesetzgebungskunst“ von Gerstäcker (sächsischer Advokat), der sich wiederholt mit diesen
Fragen befasst hat. Bei den Franzosen finde ich gleichzeitig nur die ‚‚confection des lois‘‘ behandelt. Unsere Zeit
cmpfindet in der Handhabung des Rechtes in weiterem Masse das künstlerische Moment: Friedr. Stein sprioht