Full text: Handbuch der Politik. Erster Band. (1)

  
16 Fritz Berolzheimer, Methodik und Abgrenzung der Politik. 
  
der Politik festzustellen. Allein der Apriorismus ist in der gesamten Staatslehre abzulehnen, weil 
er die geschichtliche Entwicklung ausser Betracht lässt. Daher gelangt denn auch van Calker zu 
einem grundlegenden politischen Gesetz „grösstmöglicher Förderung der Vervollkommnung aller““!P), 
dessen "angebliche Geltung mit den geschichtlichen Tatsachen nicht im Einklang steht. 
Die Soziologen!!) erstreben gleichfalls absolute Voraussetzungslosigkeit und Ausschaltung 
der Werturteile. Die Soziologen wollen durch Übertragung der naturwissenschaftlichen Forschungs- 
art!2) „den naturgesetzlichen und daher notwendigen “und unvermeidlichen Gang der sozialen Ent- 
wicklung kennen lehren. “2 
Dass jedoch die Politik sich der historischen Methode bedienen muss, ergibt sich aus dem 
Wesen der Politik. Das politische Handeln, oder der Kampf um die Macht des Staates und im 
Staate bezielt und erzielt fortgesetzt grössere und kleinere Änderungen im staatlichen Leben. Die 
Lehre dieses Machtringens muss daher das staatliche Leben in seiner Entwicklung ergreifen, um 
es begreifen zu können. Diese Lehre der historischen Methode führt auf Herder!*) und 
die historische Schule der Jurisprudenz!) zurück.!*) Schon in der Zeit der Romantik wurde (für 
die Begreifung des Rechts) die Forderung der historischen Methode aufgestellt, die freilich bis 
heute erst zum geringsten Teil erfüllt ist.) _ 
Die geschichtliche Betrachtung erweist aber das geschichtliche Werden oder die Entwick- 
lung nicht etwa dergestalt, dass ein früherer Zustand restlos in einen späteren umgewandelt würde. 
Vielmehr bleiben kraft Beharrungsvermögens Reste der früheren Zeit immer noch fortbestehen 
— zwecklos oder selbst zweckwidrig (wenn man sich utilitarisch ausdrücken will), rudimentär 
(um eine naturwissenschaftliche Bezeichnung zu verwenden). Aus allen früheren Epochen ragen 
Reste grösseren oder kleineren Umfangs in die spätere Zeit, bis zur Gegenwart. Diese Beharrungs- 
reste finden sich im Recht, wie im gesellschaftlichen Leben; ebenso auch bei den Machtfaktoren 
(Päpstliche Universalmonarchie, Absolutismus, Feudalismus, Polizeistaat, kapitalistische Aus- 
beutung bestehen noch heute in rudimentären Machterscheinungen fort). — Aus dieser Erkenntnis 
der g geschichtlichen Entwicklung als einer unvollkommenen, restebehafteten Umgestaltung erwächst 
die Notwendigkeit, die geschichtliche Betrachtung zur universalgeschichtlichen zu erweitern. 
Ist daher die Soziologie auf dem Irrweg mit ihren naturwissenschaftlichen Verpflanzungs- 
versuchen, so verdanken wir doch der Soziologie eine bedeutsame Erkenntnis: sie hat der Neuzeit 
die Augen geöffnet für die Wichtigkeit der Gruppen zur Begründung und Fortführung des 
staatlichen Lebens. Die atomistische Betrachtungsart des Naturrechts wurde zerstört (so gründ- 
lich, dass man heute zu übersehen geneigt ist, dass die Gruppe zwar nach aussen hin geschlossen 
auftritt, nach innen aber differenziert bleibt durch die Einzelnen mit ihrem Eigenleben und ihren 
Sonderansprüchen). 
1°) Politik als Wissenschaft, S. 
!t) Gumplowiez, Soziologie und Folie, S. 103—134, 137 ff. (Literaturangaben). Hierher gehört auch 
Schäffle. Zu vergleichtn ferner Spencer, Die Prinzipien der Soziologie. Deutsch von Vetter. II. Bd., Stuttgart 
1887, 5. 5—21 (Darstellung der Gesellschaft als eines Organismus). Ratzenhofer, Wesen und Zweck der Politik, 
1, S. 1—25, gründet die Politik auf die Soziologie. 
18) Mit Recht gegen die soziologische Methode Jellinek, Allgemeine Staatslehre, S.67; Rich. Schmidt, Tioge 
und Ziele der Politik, Ztschr. f. Politik, I, S. 9 ff.; F. van Calker, Politik als Wissenschaft, S. 11—15, S. I1f.: 
. Gegenstand der naturwissenschoftlichen Erkerntai ist... das einzelne Lebewesen und seine Entwicklung ... 
Gegenstand jeder Uatersuchung des staatlichen Lebens . . die Gestaltung des Zusammenlebens und Zusamnien- 
wirkens . . 
2) Gumplowiez, Soziologie und rolitik, S. 103 (Vergl. dazu a. a. O. S. 107 f.) Ratzenhofe , Wesen und 
Zweck der Politik, I, S. 169. 
14) Ideen zur Geschichte der ı Menschheit. Rigu und Leipzig 1785—92. 
1) v. Savigny, Puchta, Niebuhr, Eichhorn Dazu kommt der Einfluss des Philosophen Sohelling. 
1%) Mit Recht — unter Bezugnahme auf Herder — v. Treitschke für die geschichtliche Methode. Politik, 
I, 6: „ Demnach soll also die Politik nach der Methode des historisı hen Denkens aus empirischen Betrachtungen 
deduzieren.‘ 
“) Richtig: Bergbohm, Jurisprudenz und Reohtsphilosophie, I, Leipzig 1892,
	        
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