Full text: Handbuch der Politik. Erster Band. (1)

298 Max Fleischmann, Die materielle Gesetzgebung. 
  
Sprache meistern kann nur der Auserwählte. Diese Geschlossenheit ist darum eher ein Merkzeichen 
der Gesetze des absoluten Staates, der auf seiner Höhe sorgsame Redaktion der Gesetze 
bereits genügend zu bewerten wusste (vgl. die Gesetzesgebungskommission in Preussen am 
Ausgange des 18. Jahrhunderts), als des konstitutionellen Staates. Man rülımt der preussischen 
Gesetzgebung vor 1848, an der der Staatsrat beteiligt war, eine sorgsamere Fassung nach als 
modernen Gesetzen. Gelegentlich nicht mit Unrecht. Die kleinere Zahl trägt auch in dieser 
Hinsicht eine deutlichere Verantwortlichkeit als der vielköpfige Gesetzgeber im Parlament, dem die 
Zusammenhänge der Teile mit dem Ganzen des Gesetzes, gar des Rechtes nicht immer gegenwärtig 
sein können, der zuweilen auch die Arbeit überstürzt und selbst in Fragen der Technik nicht immer 
seine engeren politischen Ziele zurücktreten lässt. Vorschläge, umfangreiche Gesetze nur in dem 
Sachlichen durch das Parlament zu beschliessen, für die Form aber einem Vertrauensmanne freie 
Hand zu lassen“), sind deshalb allen Ernstes in Österreich gemacht worden; sie sind aber im ausge- 
bildeten Konstitutionalismus kaum mehr als fromme Wünsche. Schon die Übertragung der er- 
neuten Publikation eines unübersichtlich gewordenen Gesetzes durch den Gesetzgeber an ein Amts- 
organ (Kanzler, Minister), wie sie z. B. durch das Ermächtigungsgesetz vom 17. Mai 1898 an den 
Reichskanzler erfolgt ist, hat bei der Durchführung ihr Bedenkliches gezeigt, indem sie bei der 
Ersetzung von Verweisungen auf ältere Gesetze durch die entsprechenden Vorschriften der neu be- 
kanntgemachten Texte einer nachprüfenden Beurteilung des Amtsorganes Raum lässt.) 
Es muss hier genügen, auf die Gefahren einer Unterschätzung der Form nur hinge- 
wiesen zu haben. „Wenn auf irgend einem Gebiete, so erweist sich auf dem Rechtsgebiete 
der sprachliche Ausdruck nicht bloss als das Kleid, sondern als die wahre Leiblichkeit des 
Gedankens.“ (O. Gierke.) 
Schluss. 
Das Gesetz hat die höchste Macht im Staate, über jedweden, den Landesherrn und sein Haus 
nicht ausgenommen. Es bindet mit menschlichem Bande, auch wenn es im Religiösen®) oder Natio- 
nalen (z. B. Bestrebungen in Finland) gegen das Gewissen geht, und niemand kann von der Befolgung 
lösen, solange das Gesetz gilt. Es gilt immer das letzte gesetzliche Wort. Indes, Gesetze erben sich 
nicht nur fort, sie sterben auch. Es ist eine der vornehmsten Aufgaben einer Politik der Gesetz- 
gebung, wegzuräumen, was des Rechtes zu binden nicht mehr wert ist. Für solchen Prozess zeigt 
nicht bloss alter, gesetzesdurchsetzter Boden die geeignete Anlage, sondern nach aller Erfahrung, 
wenngleich aus andern Gründen, auch junger Boden, in den die Gesetzesstecklinge erst vorsichtig 
einmal eingesetzt sind, als Versuch, ob sie Wurzel schlagen: so fallen in unsern Kolonieen mit ihrer 
fortschreitenden Entwicklung zahlreiche Einzelgesetze, sobald sich die Möglichkeit ihrer Verein- 
heitlichung ergibt, zum Opfer. Das letzte Wort spricht aber gar nicht immer förmlich der Gesetz- 
geber. Gesetze können sich überleben; sie können in ihrer Wirkung ausgeglichen, abgelenkt werden 
durch eine danebenlaufende Gesetzeswandlung, wie sie das Recht des Reiches bereits mehrfach 
erkennen lässt, und wie sie z. B. in Bayern während der Regentschaft unter dem Drucke der Not- 
wendigkeit für das Fortschreiten des staatlichen Lebens abgerungen ward. Oder sie sterben an dem 
Widerstande, selbst dem passiven; eine entgegenstehende Gewohnheit lässt das Gesetz in Ver- 
gessenheit geraten, löst esab. Die Frage ist allerdings sehr bestritten. Aber die derogierende Kraft 
der Gewohnheit leugnen, heisst, wie ich meine, sich gegen Naturgesetze auflehnen. Auch provi- 
sorisch bloss können Gesetze überwunden werden, in Fällen der Not. An die sog. Notverordnungen 
*ı) Für das italienische Strafgesetzbuch vom 30. Juni 1889 hatte das Ministerivm einen entsprechenden 
Auftrag vom Parlament erhalten. (Lacointa, Annuaire de l&gislation Strangdre 19 S. 402.) 
#2) Ein durch die parlamentarische Obstruktion völlig entstelltes Gesicht zeigt $ 1 des Zolltarifgesetzes 
vom 25. Dezember 1902 (Bezugnahme auf Beschlüsse der Reichstagskommission!) 
*) Aus der Enzyklika des Papstes an die preussischen Bischöfe vom 5. Februar 1875: . . . denunciantes 
omnibus, ad quos ea ros pertinet, et universo catholico orbi leges illas irritas esse, ut pote quae divinae ecolesiae 
sonstitutioni prorsus adversantur.
	        
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