Paul Schoen, Die formellen Gesetze. 298
allein braucht man hier nicht zu denken; es gibt andere, schwerere Fälle. So wird in Kriegszeiten
durch die feindliche Okkupation für das okkupierte Gebiet die schwierige Situation der formalen
Fortgeltung der alten und des tatsächlichen Eingreifens einer neuen Staatsgewalt geschaffen. Aus
völkerrechtlichen Gründen können Vergeltungsmassnahmen (Retorsion, Repressalien) im Inlande
cine anormale Rechtslage bedingen, die nicht erquicklicher dadurch wird, dass die Wissenschaft
hierfür die Vorarbeit vermissen lässt. Oder die Verwaltung geht über das Gesetz hinweg, wie es
in Frankreich selbst ein demokratischer Parteiführer (Briand als Ministerpräsident gegenüber den
Gewalttaten der ausständischen Eisenbahner) als oberstes Recht der Staatsgewalt in Anspruch nahm.
Und schliesslich sind in dem Streite der politischen Parteien gerade die Fundamentalgesetze des
Staates von gewaltsamer Umwälzung bedroht. Das Recht schweigt, das sich nicht bewähren kann.
Aussergesetzliche Macht geht vor Recht, um selbst Recht zu werden.
Gewiss: „les lois sont la permanence des choses“ — aber „das Gesetz ist ein Stück irdischer
Vorsehung, und es hat reichlich an sich zu erfahren, wie beschränkt, wie schwach, wie trügerisch
dieselbe ist.‘“ Beide haben sie recht: Thiers, hier der Jurist, nicht der Politiker sagt es (de la
propriete, 1848!), und Bülow der Prozessualist. Die Zusammenfassung, den Ausklang mag uns,
wie wir es verstehen, ein bekanntes Wort von Stammler geben: „Alles gesetzte Recht ist nur
ein Versuch, richtiges Recht zu sein.‘
21. Abschnitt.
Die formellen Gesetze.
Von
Dr. Paul Schoen,
o. Professor der Rechte an der Universität Göttingen.
Literatar:
Je line, get und Verordnung (1887); G. Meyer, Anteil der Reiohsorgane ander Reiohsgesetzgebung
(1889); v. Martitz, Über den konstitut. Begriff d. Gesetzes (Ztschr. f. d. ges. Staatswiss. XXXVI., 1880,
S.241ff;Haen e l, Studien II (1880); Anschüt 2, Begriff der fzgobenden Gewalt (2. Aufleg. 1901); Der-
selbe, Grundzüge des deutschen Staatsrechtes, i. Kohlers Enzyklop. Reohtswissensohaften (7. Auflg.
1913) IV; v. Seydel , Komm. z. R.-Verf. (2. Aufig, od 41 ff, 171 ft ale Lebröiioher des Staats- und Vor-
waltungs: rechtes Laband St. R. (4. Aufl .1ff; G. Meyer St. R. (6. Auflg., bearb.
Anschütz 1905), S. 549 ff; Hienel St. R. Fuss 2) s 238 fi, Zorn St. R. 1 (2. Auflg. 1803) S. 302 kt,
407 ff; Arndt St.R. (1 901) S. 156 ff; Sohulze, Preuss. St.R. (2. Aufl. 10 | ITS. 1ff; v. Seydel,
Bayer. Se (2. Auflg. 1896) II S. 306 ff; Loening, Verw. R. (1884) S. 225 ff; 0. Mayer. Verw. R. I
I. Unter einem formellen Gesetze versteht die herrschende Theorie!) des konstitutionellen
Staatsrechtes, der auch die Praxis der höchsten Gerichtshöfe sich angeschlossen hat, jede durch ein
verfassungsmässig geordnetes Zusammenwirken des Trägers der Staatsgewalt und der Volksver-
tretung zustande gekommene staatliche Willenserklärung. Dieser formelle Gesetzesbegriff ist im
konstitutionellen Staate neben den alten materiellen Gesetzesbegriff getreten, der identisch ist mit
!) In den Hauptpunkten im wesentlichen übereinstimmend, vertreten besonders von Laband, G.
Meyer, Jelli.sk, v.Seydel, Sohulze, Anschütz, O. Mayer. Gegner dieser Theorie und der
ganzen Unterscheidung von formellem und materiellem Gesetz besonders v. Martitz, Zorn, Haenel. Über
den gegenwärtigen Stand der Lehre wie auch der Praxis eingehende Naohweisungen bei G.MeyerSt. R bes.
S, 549£,, Anm, 1 u, 8, 560£.