994 Paul Schoen, Die formellen Gesetze.
dem Begriffe der Rechtsnorm, also, ohne Rücksicht auf ihr formelles Zustandekommen, jede Norm
umfasst, die gebietend oder verbietend eingreift in den Rechtsstand der Regierten. Ein formelles
Gesetz ist überall da gegeben, wo eine staatliche Willenserklärung in der bezeichneten Weise (näheres
unten zu IV) zustande gekommen ist. Auf den Inhalt der Norm, auf den allein der materielle Ge-
setzesbegriff abgestellt ist, kommt es für den formellen garnicht an. Ein formelles Gesetz kann eine
Rechtsnorm enthalten und ist dann auch im materiellen Sinne Gesetz, es kann aber auch eine nicht
als Rechtsnorm anzusprechende Norm enthalten, wie wenn es eine Veräusserung von Staatsgütern
oder eine Aufnahme einer Anleihe anordnet, und ist dann im materiellen Sinne nicht Gesetz, sondern
Verordnung oder Verfügung (s. unten S.292f). Die Wirkungdesformellen Gesetzes ist zunächst dieselbe
wie die des materiellen: es bindet jeden, den es nach Massgabe seines Inhaltes angeht. Sodann aber
noch eine weitere, dem formellen Gesetze spezifisch eigentümliche, die zusammenhängt mit seiner
besonderen Entstehungsart: es wirkt vermöge der ihm innewohnenden sog. formellen Gesetzeskraft,
dass die Bestimmungen, die es trifft, nur auf dem Wege, auf dem sie entstanden sind, also nur durch
ein neues formelles Gesetz abgeändert oder aufgehoben werden können. Die Erklärung des Staats-
willens in Form des Gesetzes ist die wirksamste und autoritativste. Daher kann, was in dieser Form
angeordnet ist, nicht durch eine in einfacherer Form (im Wege der Verordnung s. unten 293) abgege-
bene staatliche Willenserklärung geändert werden. Wohl aber können alle Normen, die nicht im
Wege der Gesetzgebung emaniert sind, durch das formelle Gesetz geändert und aufgehoben werden.
In welchem Sinne der Ausdruck Gesetz im einzelnen Falle in einer im konstitutionellen
Staate ergangenen Vorschrift gebraucht ist, kann, sofern sich nicht, um Zweifel auszuschliessen, der
Gesetzgeber hierüber ausdrücklich erklärt hat,?2) nur aus dem Zusammenhange entnommen
werden.) In der modernen Literatur wird das Wort Gesetz meistens im formellen Sinne gebraucht.
II. Ist nach dem Vorangehenden jedes formelle Gesetz eine Schranke der Bewegungsfreiheit
der Regierung, die sie allein (d.h. ohne Mitwirkung der Volksvertretung) nicht mehr beseitigen
kann, so ist es eine der wichtigsten Fragen des praktischen Staatslebens, wann eine staat-
liche Willenserklärung in Form des Gesetzes abgegeben werden
muss und wann die zur Disposition der Regierung stehende Verordnung genügt. Aus dem Wesen
des formellen Gesetzes lässt diese Frage sich nicht beantworten. Die in Betracht kommenden
Verfassungsvorschriften aber sind nicht überall auf den ersten Blick klar und eindeutig, und so
ist die Frage nach dem Vorbehaltsgebiete des formellen Gesetzes eine sehr umstrittene. Die heute
zweifellos herrschende Meinung, die schon um deswillen die annehmbarste ist, weil sie die Ent-
stehungsgeschichte der umstrittenen Verfassungsvorschriften für sich hat,*) geht dahin, dass
Rechtsvorschriften stets im Wege der Gesetzgebung erlassen werden müssen; wobei dann unter
Rechtsvorschriften solche Vorschriften verstanden werden, die in den Rechtsstand der Regierten
eingreifen oder, wie dieses eine in mehreren Verfassungsurkunden sich findende Formel ausdrückt,
„die Freiheit der Personen und das Eigentum der Staatsangehörigen betreffen‘. Staatliche Willens-
erklärungen, die nicht neue Rechtsvorschriften enthalten, müssen nur dann in die Form
des Gesetzes gekleidet werden, wenn diese gesetzlich ausdrücklich vorgeschrieben ist — wie
z. B. für den Etat, für die Aufnahme von Anleihen, Übernahme von Garantien (R.Verf. Art. 69,
73; preuss. Verf. Art. 99, 103) und andere Verwaltungshandlungen, oder für die Urteilssprüche,
welche der Bundesrat auf Grund des Art. 76 Abs. 2 der R.Verf. zu fällen hat —, oder wenn sie
*) wie z. B. in Art. 2 des Einf. Ges. z. B. G. B. „Gesetz im Sinne des Bürgerlichen Gesetzbuches und
dieses Gesetzes ist jede Rechtsnorm“, d.h. das Wort Gesetz isthierstets gebraucht im materiellen Sinne. Ebenso
Einf. Ges. z. Zivilprozessordnung Art, 12, z. Strafprozessordnung Art. 7, z. Konkursordnung Art. 2.
®) Aus ihm ergibt sich z. B., dass in den Verf.-Urkunden das Wort Gesetz stets da im formellen Sionege-
braucht ist, wo dieRegelung einor Angelegenheit durch Gesetz vorgeschrieben ist, indem es sich hier darum handelt,
der Volksvertretung eine Beteiligung an dieser Regelung zu sichera. Vergl. z. B. preus. Verf.Urk. Art. 2, 5, 8, 9, 13
usw. (anders dagegen Art. 4: „Alle Preussen sind vor dem Gesetze gleich‘, wo Gesetz zweifellos im materiellen
Sinne gebraucht ist) oder Reichsverf. Art. 41, 69.
*) Vgl. die bei G.Meyer St.R. S. 562 f., Anm.6 u. 7 gegebenen, durch Anechütz ergänzten Nach-
weisungen.