3223 Gerhard Anschütz, Verwaltungsgerichtsbarkeit.
ragendster theoretischer Vertreter. Indessen hatte er damals den Höhepunkt seiner
werbenden Kraft doch schon überschritten. Es war ihm inzwischen, namentlich durch
die bahnbrechenden Arbeiten Gneists über englisches und deutsches Verwaltungsrecht eine
Gegnerschaft erwachsen, welche das Problem des Rechtsschutzes auf dem Gebiete der Verwaltung
auf einem anderen Wege lösen wollte. Schon 1860 hatte Gneist (Engl. Verf.- u. Verwaltungsr.
Bd. 2, 1. Aufl., S. 887 £f.) den Gedanken der Rechtskontrolle der Verwaltung durch die ordentlichen
Gerichte verworfen: die Garantie gesetzmässiger Verwaltung dürfe nicht in der Unterordnung der
Verwaltung unter die Justiz gesucht, sondern müsse gefunden werden in einer dem Zwecke des
Rechtsschutzes entsprechenden Neugestaltung der Verwaltung selbst: eine gewisse Justizähnlichkeit
der Verwaltung in Organisation und Verfahren sei anzustreben. Das Wesentliche sei „die Trennung
der höchsten Beschwerdeinstanz von der laufenden Ministerverwaltung‘. Damit war die Forderung
besonderer Verwaltungsgerichte — justizförmiger Einrichtungen mit prozessähnlichem
Verfahren innerhalb, nicht ausserhalb des administrativen Organismus — im Kerne bereits erhoben
Dieser Forderung sollte die Zukunft gehören. Eine erste Verwirklichung fand sie im Grossherzögtum
Baden: G. über die Organisation der inneren Verwaltung vom 5. Oktober 1863. Ihren Sieg in
Deutschland entschied die Einführung der Verwaltungsgerichtsbarkeit in Preussen durch die
Verwaltungsreform der Jahre 1872—1883.
Die Gründe, welche diesen Sieg und damit die Ablehnung der Übertragung der Rechis-
kontrolle der Verwaltung auf die ordentlichen Gerichte herbeigeführt haben, sind im wesentlichen
folgende. Einmal musste damit gerechnet werden, dass der deutsche Richterstand in seiner vor-
wiegend privat- und strafrechtlichen Schulung und Berufserfahrung den Aufgaben, vor welche
ihn jene Übertragung stellen würde, nicht gewachsen sein möchte. Dieser Besorgnis unzureichender
Rechtskenntnis trat die andere hinzu, dass es auch an der nötigen Sach kenntnis fehlen werde.
Ist doch in ausserordentlich vielen Konfliktsfällen zwischen Verwaltung und Individuum weniger die
Rechtsfrage als die Tatfrage streitig. Man denke an die Bedürfnisfrage bei Wirtschaftskonzessionen,
an Meinungsverschiedenheiten über Zuverlässigkeit oder Unzuverlässigkeit eines Gewerbetreibenden
(vgl. Gewerbeordnung $ 32), über die Notwendigkeit oder Entbehrlichkeit öffentlicher Arbeiten.
(Anlegung eines Weges, Bau eines Schulhauses), über das Vorliegen der „tatsächlichen Voraus-
setzungen‘ (preuss. Landesverwaltungsgesetz v. 30. Juli 1883, $ 127), welche die Polizei zum
Erlass einer Verfügung berechtigen. Diese und viele andere in der Praxis der heutigen Verwaltungs-
gerichte tagtäglich vorkommenden Fragen sind nicht Rechtsfragen, welche allein der im Richteramt
geschulte Jurist beantworten kann. Es kommt hier weit weniger auf Rechts- als auf Suchkenntnis,
und auf praktische administrative Erfahrung an. Und schliesslich noch eine gegen die Über-
tragung der Verwaltungsrechtspflege an die Justiz sprechende Erwägung; es ist die entscheidende:
diese Übertragung würde die Verwaltung nicht sowohldem Recht als der Justiz unterordnen,
damit aber letzten Endes die Verantwortlichkeit in den Verwaltungssachen auf die Justiz über-
wälzen und die Verwaltung der Selbständigkeit berauben, deren sie durchaus bedarf, um ihren
Aufgaben gerecht zu werden. Die staatliche Verwaltungshoheit würde in Wahrheit auf die Ge-
richte übergehen. Das, worauf es im Rechtsstaate immer wieder ankommt, die Durchführung der
Gewaltenteilung, wäre nicht nur nicht erreicht, sondern in einem entscheidenden Punkte geradezu
negiert: die Verwaltung wäre mit der Justiz gleichsam wieder zusammengelegt und damit eine
Entwicklung, die man bisher allgemein für einen der grössten Fortschritte hielt, auf ihren status
quo ante zurückgeführt.
Das natürliche Schwergewicht dieser Erwägungen hat sich überall geltend gemacht. Wo
immer in Deutschland seit den 60er und 70er Jahren des 19. Jahrhunderts das Problem der VG
in Angriff genommen wurde (s. u.III),nirgends hat man der anfänglich hier und da wohl vorhandenen
Neigung, den Rechtsschutz in Verwaltungssachen den ordentlichen Gerichten zu übertragen,
Folge gegeben (woran man übrigens, was die Landesgesetzgebung betrifft, von Reichs wegen nicht
gehindert gewesen wäre, vgl. Einf. Ges. zum Reichs-Gerichtsverfass.-Ges. $ 4). Vielmehr ist das,
was Gneist als das „Wesentliche‘‘ bezeichnet hatte, die Trennung von tätiger und_ streitent-
scheidender Verwaltung, gesucht und gefunden worden in der Schaffung von Verwaltungsgerichten,
welche, obwohl den Gerichten ähnlich gestaltet, doch Verwaltungsorgane geblieben, nicht ausserhalb