Full text: Handbuch der Politik. Erster Band. (1)

Gerhard Anschütz, Verwaltungsgerichtsbarkeit. 323 
sondern innerhalb des Verwaltungsorganismus angebracht sind. Die VG bedeutet Kontrolle der 
Verwaltung, aber durch eine ihr nicht fremde, sondern immanente Macht, durch besondere, 
justizförmig gestaltete Verwaltungsbehörden. 
Man hätte sich für das Ganze auf das Vorbild Frankreichs berufen können. Denn 
die Gedanken, welche unserer VG ihr Gepräge geben, liegen doch, wenn man den Blick auf das 
wirklich Wesentliche richtet, auch der um mehr als sieben Jahrzehnte älteren, durch das grosse 
napoleonische Organisationsgesetz von 1801 („Pluviösegesetz‘“) geschaffenen französischen VG 
(contentieux administratif, justice administrative) zugrunde (vgl. unten S. 317). Doch ist das 
Bewusstsein einer Anlehnung an die französischen Einrichtungen (abgesehen natürlich von Elsass- 
Lothringen, wo dieselben einfach übernommen und in der Folge nur wenig umgebildet wurden) 
nirgends nachweisbar, und auch objektiv kann von einer solchen Anlehnung nicht die Rede sein. 
Es liegt ein Parallelismus der Entwicklung, nicht eine Rezeption französischen Rechtes vor. Die 
deutsche VG ist Eigengewächs, sie gehört nicht zu den Institutionen, welche aus Frankreich impor- 
tiert oder unter französischem Einfluss ausgestaltet worden sind. 
YIE. Organisation, Verfahren und Zuständigkeit der deutschen Verwaltungs- 
gerichte. — VG besteht gegenwärtigim grössten Teile des Deutschen Reichs, nämlich in den 
Staaten Preussen, Bayern, Sachsen, Württemberg, Baden, Hessen, Oldenburg, Braunschweig, 
Anhalt, sämtlichen thüringischen Staaten und Lippe (also in 18 deutschen Einzelstaaten von 25) 
ferner im Reichslande Elsass-Lothringen. Auch das Reich hat sich eine eigene und unmittelbare 
VG geschaffen, diese besteht aber nicht in einem zentralen Gerichtshof mit allgemeiner Zuständig- 
keit, sondern in einer Mehrheit von Spezialbehörden (Reichsversicherungsamt, Bundesamt für das 
Heimatswesen, Aufsichtsamt für Privatversicherung, Oberseeamt, Reichspatentamt und einige 
andere Stellen, z. B. Aufsichtsamt für Privatversicherung, Oberschiedsgericht in Sachen der 
Angestelltenversicherung, Reichseisenbahnamt). Die von mehreren Seiten empfohlene (vgl. Ver- 
handlungen des 30. deutschen Juristentages [1910] Bd. 1 S.51 ff., 489 ff.) Vereinigung dieser 
Sondergerichte zu einem einheitlichen Reichs-Verwaltungsgericht, dem dann auch noch andere 
Zuständigkeiten, eventuell die Rechtskontrolle über den gesamten Vollzug der Reichgesetze 
durch die Behörden der Einzelstaaten zu übertragen wären, ist wohl nur eine Frage der Zeit. 
Einstweilen aber liegt diese, wie jede andere Rechtskontrolle der Verwaltung noch in der 
Hand der Einzelstaaten; die deutsche VG ist, von jenen Reichs-Sondergerichten abgesehen, 
Landes gerichtsbarkeit. 
1. Organisation. — Die Verwaltungsgerichte sind, dem Begriff der VG ent“ 
sprechend, nicht in den Rahmen der Gerichtsverfassung sondern in den der Verwaltungsorganisation 
der einzelnen Länder eingefügt, also nicht Justiz-, sondern Verwaltungsorgane. Die unteren Instanzen 
des Systems, die Verwaltungsgerichte erster und, beim Vorhandensein dreier Instanzen, der Mittel- 
instanz sind überall zugleich Verwaltungsbehörden im engeren und eigentlichen Sinne, beauftragt 
mit der laufenden, tätigen Geschäftsführung auf dem Gebiete der inneren Verwaltung (nach dem 
preussischen Ausdruck: der „allgemeinen Landesverwaltung“), sodass hier die Trennung zwischen 
tätiger und streitentscheidender Verwaltung eine nur prozessuale ist, indem die Behörden dann, 
wenn sie als Verwaltungsgerichte fungieren, nicht das gewöhnliche formlose Verwaltungsverfahren, 
sondern eine besondere Prozedur, dass Verwaltungsstreitverfahren (es. u. 2) zu 
beobachten haben. Dagegen ist in der obersten Instanz die VG durchwegauch organisatorisoh 
von dem laufenden Vollzug der Verwaltungsgeschäfte getrennt: die diese Instanz verkörpernden 
Oberverwaltungsgerichte oder Verwaltungsgerichtshöfe sind nur Verwaltungsgerichte und haben 
mit der oberen Leitung der tätigen Verwaltung, welche den administrativen Zentralbehörden, d. h. 
den Ministerien, ungeschmälert verblieben ist, nichts zu tun. 
Die Verwaltungsgerichte sind also Verwaltungsorgane. Sie sind aber, ihrem besonderen 
Zweck, der gesetzmässigen, unabhängigen und unparteüschen Streitentscheidung entsprechend, 
gerichtsähnlich gestaltet. Sie sind, im Gegensatz zu dem in der Verwaltung sonst vor- 
herrschenden monokratischen Organisationstypus, kollegialisch eingerichtet. Ihr Instanzenzug 
ist nach dem Vorbild des gerichtlichen geregelt (3 Instanzen in Preussen und Bayern, in den anderen 
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