333 Albrecht Mendelssohn Bartholdy, Zivilrechtspflege.
können, weil sie einmal eine „Errungenschaft“ waren; er empfindet es nicht ohne Grund als schweres
Hemmnis gesunder Justizgesetzgebung, dass in den Parlamenten der Abgeordnete, der bei einer Kom-
missionsberatung nach den Bedürfnissen der Rechtspflege stimmt, im Plenum dem Fraktions-
zwang unterworfen ist und deshalb die für recht erkannte, aber unpopuläre Reform nicht zu befür-
worten wagt. Dagegen ist dem auf die Besserung der Zivilrechtspflege bedachten Rechtsverständigen
die Gleichgültigkeit im \eg, mit der selbst die Grundsätze und die alltäglichen Wirkungen des bür-
gerlichen Streitverfahrens im Volk und selbst unter den Leuten, die sich besonders mit der Erörterung
und Behandlung des öffentlichen Wesens abgeben, betrachtet — oder vielleicht geradezu über-
sehen werden; er ist betroffen davon, wie wenig selbständiges Nachdenken der Bürger, der nicht
eben selbst in einen Prozess verwickelt ist, den Problemen widmet, die ihm die wichtigsten scheinen:
etwa der Stellung des Richters und des Anwalts, der Unabhängigkeit und Würde des Richteramts,
der Einheit der Rechtsprechung, der Einfachheit und Billigkeit, aber auch der Energie des Prozess-
gangs, oder, um einige verstreute Einzelfragen hervorzuheben, der Zeugnispflicht (Beeidigung),
dem Armenrecht und der unentgeltlichen Gewährung von Rechtsrat, dem Prozessführungsrecht
des Ehemanns und der Vollstreckung in das Frauenvermögen, dem Präventivakkord oder schliesslich
dem Aufhebungsverfahren gegen rechtskräftige Urteile. Nur das verkehrte und verwirrende Schlag-
wort de: „Weltfremdheit‘‘ des Richters ist gleichmässig oder wenigstens ohne besondere Differen-
zierung für Zivil- und Strafrechtspflege durch die Presse in die Vorstellung der Menge von unserm
Rechtswesen eingedrungen, während zum Beispiel die nah verwandten und durchaus berechtigten
Klagen über unverständliches und oft geradezu auf die Verblüffung des Rechtsunkundigen hinaus-
kommendes Juristendeutsch ohne Resonanz bleiben und sich höchstens gelegentlich in der humo-
ristischen Ecke des Feuilletons auslassen dürfen.
2. Diesem allem zum Trotz tritt in der neuern Reformbewegung auf dem Gebiet der Zivil-
rechtspflege nichts anderes so deutlich hervor wie das Verlangen nach stärkerer Bewertung des
Öftentlichrechtlichen imZivilprozess. Das zeigtsich nicht nur inderdeutschen Literatur; ein Ver-
gleich mit den Bestrebungen in Frankreich und Italien, in den Vereinigten Staaten und in England,
wie ibn das Prozessreformheft der Rheinischen Zeitschrift (Juli 1910) an den Abhandlungen von
Tissier, Chiovenda und Pound erlaubt, zeigt überall, sogar bei den verschiedensten Zuständen der
Staats- und Rechtskultur und bei einer im übrigen unverkennbaren Unvergleichbarkeit der Rechts-
pflege-Einrichtungen, dieselbe Tendenz. (Vgl. besonders a. a. O. S. 490, 491; 505, 506; 533 fgd., 563
und meine Abhandlung über Justizreform im Jahrbuch des öffentl. Rechts 1907 153 fgd.,
166, 167). Sie impliziert keineswegs ein Aufgeben der s. g. Verhandlungsmaxime, obgleich natürlich
für sie der Gegensatz zwischen dem gerichtlichen Verfahren in Strafsachen und in Zivilsachen gegen-
über der Betonung des gemeinsamen gerichtlichen (Staats-) Charakters beider Prozesse
zurücktreten muss. Ein guter Prüfstein für die ältere und die neuere Auffassung ist der Fall einer auf
Klage und Klagbeantwortung (oder sonstigen genügenden Schriftenwechsel) anberaumten Verhand-
lung, zu der der Richter vorbereitet erscheint — er hat auch bei der Verteilung der Geschäfte unter
seine Amtsstunden mit der wahrscheinlichen Dauer dieser Verhandlung rechnen müssen —, die Par-
teien aber beide ausbleiben (oder eine Partei ausbleibt und ihr erschienener Gegner daraufhin sich
weigert, allein mit dem Richter die Sache fortzuführen). Mit anderen Worten: Die für den Säumigen
mildere oder strengere Gestaltung des Versäumnisverfahrens ist eines der besten Kriterien für den
Geist der Prozessordnung. (Tissier a. a. O. S.560 zum französischen Entwurf; die sehr schwächlichen
Anderungen der Novelle von 1909 zur deutschen Z.P.O.; die radikale Unterdrückung der Parteiver-
säumnis im englischen Prozess.) Je mehr die öffentlich-rechtliche Seite des Zivilprozesses betont
wird, desto mehr Gewicht legt man auch auf die Bedeutung der Gerichtsverfassung für den Prozess.
Für das geringe Verständnis, das noch die deutsche Justizgesetzgebung von 1879 diesem organischen
Zusammenhang entgegenbrachte, ist es bezeichnend, dass bei grundverschiedener Gestaltung des
Straf- und Zivilprozesses die Verfassung der Gerichte in einem selbständigen Gesetz für die beiden
Prozesse zusammen geordnet wurde. Ebenso bezeichnend ist auf der anderen Seite, dass in der
Justizverwaltungspraxis der deutschen Staaten überall eine mehr oder weniger ausnahmslose Tren-
nung der Zivilrichter- und der Strafrichter-Laufbahn, im Zusammenhang mit der Beförderung vom
Staatsanwalt zum Strefrichter, besteht.