348 K. Schulz, Die Entlastung des Reichsgerichts.
bei konformen Entscheidungen für solche Fälle gegeben sein sollte, in denen das Berufungsurteil
auf der Auslegung eines Gesetzes beruht, die mit einer früheren Entscheidung des Reichsgerichts
oder eines Obersten Landesgerichts in Widerspruch steht. Die Geltendmachung eines solchen
Widerspruchs sollte dem Privatinteresse der Partei überlassen bleiben. Sehr allgemein wendete
man dagegen ein, dass dadurch ein starker Anreiz zur Formulierung von Rechtssätzen aus Urteilen,
welche nur den einzelnen Fall zu entscheiden bestimmt sind, gegeben sei und die Verstärkung des
Präjudizienunwesens daraus hervorgehen werde. Jedenfalls würde eine grosse Anzahl von Revi-
sionen mit einer auf jene Ausnahme hinzielenden Begründung eingewendet werden. Meines Er-
achtens wäre der Vorschlag der Regierungen annehmbar gewesen, wenn die Formulierung von Rechts-
sätzen aus den Urteilen ausschliesslich dem erkennenden Senat überlassen bliebe. Es wäre die
einstige Gepflogenheit des Reichsgerichts, in dazu geeigneten Rechtsfällen kurze Rechtssätze oder
Grundsätze — ähnlich wie die vom Plenum entschiedenen Rechtsfragen — aufzustellen und als
‚Notizen‘ unter den Senaten des Reichsgerichts auszutauschen, wieder aufzunehmen gewesen.
Durch Veröffentlichung hätte man ihnen eine grössere Verbreitung geben müssen. Nur das Ab-
weichen von diesen Sätzen dürfte als Revisionsgrund gelten. So würde das Reichsgericht selbst
den prinzipiellen Teil seiner Rechtsprechung von dem mehr zufälligen, in seiner Wirkung auf den
einzelnen Fall beschränkten scheiden. Oder die Prüfung des Widerspruchs hätte nur aus öffentlichem
Interesse durch eine öffentliche Behörde geschehen dürfen. Von anderer Seite ist zur Verminderung
der Bedenken gegen das Difformitätsprinzip die Zulassung der Revision trotz konformer Ent-
scheidungen bei einer Revisionssumme von 5000 bis 10000 Ma-k vorgeschlagen worden.3)
Die frühere praktische Betätigung des Difformitätsprinzips in Ländern des jetzigen Deutschen
Reichs (bei der preussischen Revision und im hamburgischen, badischen und braunschweigischen
Prozess) ist eine zu beschränkte gewesen, um daraus Gründe für oder gegen seine Einiührung zu ent-
nehmen. Wichtiger ist die !ängere Geltung des Grundsatzes in Österreich. Hier wird er auch bei
der jetzt noch schwebenden Reform des Rechtsmittels der Revision seine Mitwirkung bei der Be-
grenzung behaupten. Die österreichische Regierung hat vorgeschlagen, die Revisionen gegen gleich-
lautende Zivilurteile nur dann zuzulassen, wenn die Revisionssumme in bezirksgerichtlichen Rechts-
sachen 1000 Kronen, in Gerichtshofssachen 2000 Kronen überstiege. Das Herrenhaus hat statt dessen
die Unzulässigkeit von Revisionen gegen bestätigende Berufungsurteile in allen bezirksgerichtlichen
Rechtssachen ferner in Wechsel- und Scheckprozessen bis einschliesslich 1000 Kronen beschlossen.%)
Die Einheit der Rechtsprechung ist ein Grundsatz, der nicht ohne Begrenzung und verstän-
dige Abwägung geltend gemacht werden kann. Die Fülle des individuellen Rechtslebens soll durch
ihn nicht eingeengt werden, die Entscheidungen dürfen nicht dem Schematismus verfallen. Aber die
Sicherheit des Rechtsverkehrs und das Ansehen der Gerichte beeinträchtigende Widersprüche sollen
verringert und womöglich ausgeschlossen werden. Die zahlreichen Klagen in der Literatur über
widersprechende Urteile betreffen vorzugsweise die Rechtsprechung des Reichsgerichts. Diese
unterscheidet sich durch den präjudiziellen Charakter vieler ihrer Urteile wesentlich von der Recht-
sprechung der Oberlandesgerichte. Auch da, wo diese in letzter Instanz Recht sprechen, können ihre
Urteile nicht die vorbildliche und massgebende Bedeutung gewinnen wie die des Reichsgerichts;
sie können „endgültige Rechtssätze‘ nicht aufstellen. Erst in der obersten Instanz tritt das Bedürfnis
einheitlicher Rechtsprechung zwingend hervor. Die Bedingungen für diese herzustellen und aufrecht-
zuerhalten ist daher von besonderer Wichtigkeit.
Die Begrenzung des Arbeitsstoffs des Reichsgerichts durch die Erhöhung der Revisions-
summe behandelt völlig ungleich Sachen, die sich in Geld schätzen las en und solche, bei denen dies
ausge-chlossen ist; sie beruht auf einem völlig äusserlichen Gesichtspunkt. Das Difformitätsprinzip
legt dagegen der Übereinstimmung zweier Instanzen im Ergebnis, wenn auch aus verschiedenen
%) Düringer, Richter und Recht-prechung. Leipzig 1909. S. 58—59. Derselbe: Zum Entwarf eines
Gesetzes zur Entlastung des Reichsgerichts. Deutsche Juristen-Zeitung. XV. Jahrg, S. 331.
*) Die Bedeutung des Difformitätsprinzips im österreichischen Prozess ist gründli--h erörtert von Ott
a. 0.0. 8. 57ff. Vergl. auch: Leonhard, Die Einschränkung des Rechtemittelzuges im österr. Zivil-
prozesse. Zeitschrift für Notariat und freiwillige Gerichtsbarkeit in Österreich. 1912 S. 13 Ef.