362 Ernst Beling, Strafrechtspflege.
fange gesetzlich höchstens durch eine kautschukartige Formel (etwa, wie in den Beamtengesetzen
„achtungswürdiges Verhalten‘‘) umschrieben werden kann. Soweit hiernach das Gesetz die exakte
Antwort auf die Frage nach Zulässigkeit oder Unzulässigkeit eines Verhaltens bestimmter Art
schuldig bleibt oder eine Handlung zur „Ermessenssache‘“ stempelt, müssen notwendigerweise
Werturteile, also Zweckmässigkeitserwägungen die Direktive für das Handeln abgeben.
Solche nach Tunlichkeit zu objektivierende Zweckmässigkeit ägungen müssen im Straf-
prozess namentlich dahin führen, dass — im Grunde genommen alles Trivialitäten! — die
Behörden leidenschafts- und vorurteilslos verfahren, namentlich nicht vor vollem Abschluss der
Beweisaufnahme einen Beschuldigten als Schuldigen, einen Zeugen als unglaubwürdig behandeln;
dass Parteipolitik und Klassenjustiz keinen Eingang in den Gerichtssaal finden, dass jedermann
ohne Ansehen des Standes, der politischen Parteistellung und seiner sozialen Stellung gleich
höflich und seinem Alter, seinen Gesundheitsverhältnissen pp. entsprechend, aber auch ohne
privilegierende Auszeichnung (Entbindung von Betreten der Anklagebank, Anrede als „Herr“
Angeklagter) behandelt wird; dass auch der leiseste Schein der Unaufmerksamkeit, der Überhastung
oder Ungründlichkeit vermieden wird®) usw.
Für die Haltung der Staatsanwaltschaft ist namentlich eins zu betonen: sie hat gegenüber
den Strafanträgen wegen übler Nachrede (oder Verleumdung) auch dann grösste Zurückhaltung zu
üben, wenn jene von sozial Höhergestellten oder amtlichen Stellen ausgehen. Hat jemand, etwa in
einer Zeitung, gegen einen Privaten oder Beamten einen Vorwurf inkorrekten Verhaltens erhoben,
so muss die erste Aufgabe die sein, der Richtigkeit dieser Anschuldigung auf den Grund zu gehen und
gegebenenfalls eine umfassende Strafverfolgung in dieser Richtung eintreten zu lassen. Es ist ver-
kehrt, den Spiess umzukehren und gegen den, der den betr. Vorwurf erhoben hat, sogleich auf Grund
mehr oder weniger oberflächlicher Erhebungen die Beleidigungsklage zu erheben. Das Fiasko, das
solche Beleidigungsklagen häufig erleben, wie manche Vorkommnisse der letzten Zeit zeigen, ist
für das Ansehen der Behörde ebenso abträglich, wie es unbillig und sachwidrig ist, denjenigen ans
Messer zu liefern, der ein Geschwür aufgedeckt hat, statt an das Geschwür selbst zu rühren!
Endlich ist aber auch Behörden aller Art ausserhalb staatsanwaltschaftlicher und richter-
licher Funktionen vielfältige rechtliche Möglichkeit gegeben, durch Ermessensentscheidungen
fördernd oder hemmend auf den Strafrechtsschutz einzuwirken: sie sind nicht selten vor die Frage
gestellt, ob sie einen Strafantrag stellen, ob sie einem zugehörigen Beamten die Zeugenaussage oder
die Tätigkeit als Sachverständiger ermöglichen, ob sie Benutzung ihrer Akten zu Prozesszwecken
gestatten sollen, ohne dass dabei die Entschliessung durchweg durch feste gesetzliche Direktiven
geregelt wäre. In derartigen Sachlagen liegt — psychologisch sehr begreiflich — für die Behörde die
Versuchung nahe, ihr spezifisch behördliches Interesse massgebend sein zu lassen, z. B. Zeugenaus-
sagen durch Beamte und Akteneinsicht deshalb zu inhibieren, weil anderenfalls Fehlgriffe von Be-
amten ans Tageslicht treten würden. Es bedarf keiner Ausführung, dass solche Praxis ebenso
bureaukratisch engherzig ist, wie sie dem Gesamtwohl abträglich sein muss, und dass speziell das
Amtsgeheimnis nicht Selbstzweck sein darf. Das behördliche Interesse ist hier wie immer als ein nur
abgeleitetes zu werten. Auch hier muss sich die Entschliessung auf die Höhe der Staatskunst über-
haupt erheben: salus rei publicae suprema lex.
°) Es ist zu missbilligen, dass sich ein Richter während der’ Verhandlung anderweit, etwa mit Lesen
von Akten, beschäftigt. Zu widerraten auch die flüsternde oder auf konkludente Verständigung durch Kopf-
nicken usw. beschränkte Beratung des Kollegiums im Sitzungssaal. Geradezu peinlich und erbitternd wirkt
es, wenn diese „Beratung“ nur einen Augenblick währt und nur in einem Austauschen von Blioken besteht,
Wer wollte es hier dem Unbeteiligten verargon, wenn er ein vor Eintritt in die Verhandlung abgekartetes
Spiel wittert! \