Full text: Handbuch der Politik. Erster Band. (1)

Friedrich Oetker, Schwurgericht und Schöffengericht. 365 
  
Die Bekämpfung der Jury zugunsten des rechtsgelehrten Beamtengerichts, an der es in 
Deutschland nie gefehlt hat, ist bisher ohne Erfolg geblieben. Die Teilnahme des Volkes am Straf- 
gericht liegt, wenn nicht logisch, so doch für die politische Gedankenwelt, die unsere Zeit beherrscht, 
in der Konsequenz des konstitutionellen Prinzips. Im Schöffengericht hingegen ist der Jury ein 
gefährlicher Rivale entstanden. 
So hielt 1873 die Reichsregierung die Zeit für gekommen, unter Abschaffung der Schwur- 
gerichte für Strafsachen aller Art Schöffengerichte einzuführen. Aber die Jury hat sich in den 
Reichsjustizgesetzen behauptet. Die Kommission zur Vorbereitung einer neuen deutschen Straf- 
prozessordnung kam auf das Projekt von 1873 zurück. Doch bewährte sich wiederum die Volks- 
tümlichkeit der Jury. Die neuen Entwürfe 1908, 1909 halten — mit einigen Beschränkungen der 
Zuständigkeit — an ihr fest. 
Auf dem europäischen Kontinent bestehen Schwurgerichte ferner in Belgien (franz. code 
d’instr. crim. mit Abänderungen), Portugal (seit 1832), Griechenland (10. 3. 1834), in einer Reihe 
schweiz. Kantone (Genf, Waadt, Bern, Freiburg, Thurgau, Zürich, Aargau, Neuenburg, Solothurn), 
Italien (20. 11. 1859, bezw. 26. 11. 1865, 8. 6. 1874), Russland (20. 11. 1864, umgestaltet 1889, nicht 
überall eingeführt; Näheres: Foinitzki, Strafgesetzgebung der Gegenwart I S. 308 fg.), Rumänien 
(2. 12. 1864), Spanien (25. 4. 1888), Norwegen (1. 7. 1887, 22. 5. 1902), Ungarn (4. 12. 1896, 25. 8. 
1897). 
Die englischen Kolonien haben vielfach mit dem engl. Rechte auch die Jury (Malta, Austra- 
lien, Ostindien pp.). In Brasilien wurden Anklage- und Urteils-Jury (5. 12. 1832) eingeführt. 
Die Entwürfe für Italien und Österreich (1909) behalten die Jury bei, der letztere freilich 
in starker Beschränkung und mit unverkennbarer Hinneigung zum Schöffengericht. 
III. Der Jury fällt die Schuld-, der Richterbank die Straffrage zu. Nicht der 
„nackte‘‘ Tatbestand einer Tötung, sondern die Verübung eines Tötungsverbrechens in der Gesamt- 
heit seiner rechtlichen Erfordernisse wird im Wahrspruche bejaht. An Stelle dieses allein fassbaren, 
in England klar erkannten Gegensatzes hat die französische Rechtsübung die zur Kompetenz- 
abgrenzung ungeeignete Scheidung von Tat- und Rechtsfrage gesetzt, war bemüht, die 
Geschworenen auf blosse Tatsachen zu beschränken, den Rechtspunkt dem Gerichte vorzubehalten. 
Die englischen Geschworenen werden durch Rechtsweisung des Richters in ihrer stets zugleich 
rechtlichen Aufgabe unterstützt; in Frankreich ist dafür nicht gehörig gesorgt. Die deutsche Wissen- 
schaft hat den Irrtum der französischen Praxis überwunden. In Deutschland und Österreich wird 
den Geschworenen richtig die Schuld-, den Richtern die Straffrage zugewiesen. Aber die Durch- 
führung der Unterscheidung lässt noch zu wünschen übrig, indem Teile der Straffrage zur Schuld- 
frage gerechnet werden und (nach Reichsrecht im Anschluss an code 341) den Geschworenen die 
Feststellung der mildernden Umstände, die als Strafzumessungsgründe zur Straffrage gehören, 
zufällt. 
Eine Ausnahme vermag für England zu begründen das „Spezialverdikt": die Jury antwortet 
auf die einzelnen Anklagetatsachen und überlässt die Findung des Ergebnisses dem Richter, doch ist solche Selbst- 
beschränkung selten. In das kontinentale Recht sind die Spezislverdikte nur ganz vereinzelt und modifiziert 
(Braunschweig, Thüringen) aufgenommen worden. 
Auf dem Grunde eines Schuldspruchs der Geschworenen hat das Gericht die Strafe zu be- 
stimmen. 
Das Ansehen des engl. Richters, der im Schlussvortrag (summing-up, charge) bestimmenden 
Einfluss übt, und die Abhängigkeit der Geschworenen von Beweisregeln, die der Richter bindend 
darlegt, ermöglichen, dass das engl. Verdikt unmittelbar die Anklageschrift für begründet erklären 
oder verwerfen kann. Die französ., deutschen pp. Geschworenen, die in der Beweiswürdigung ganz 
frei und an Rechtsweisungen des Gerichts formell nicht gebunden sind, bedürfen der Leitung durch 
Fragen des Gerichts (so von vornherein die franz. Gesetze), die, logisch gegliedert, die kon- 
kreten Tatbestände und Tatumstände hypothetisch unter die gesetzlichen ziehen und so gefasst 
sind, dass ihre Bejahung oder Verneinung die Schuld, Nicht-Schuld des Angeklagten vor dem Ge- 
setze oder den Bestand, Nichtbestand gesetzlicher Erschwerungs-, Milderungs- pp. Gründe ergibt. 
Teilweise Bejahung, Verneinung einer Frage ist zulässig.
	        
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