Full text: Handbuch der Politik. Erster Band. (1)

36 Karl Lamprecht, Staatsform und Politik im Lichte der Geschichte. 
  
ihm eine wohlfunktionierende Zentralverwaltung auf, namentlich seitdem die Fürsten Kanzleien 
mit ausgiebigem schriftlichem Verfahren entwickelt und ihren Wohnsitz ziemlich ständig in nur 
einer oder höchstens mehreren Residenzen aufgenommen haben. Gewiss hatten da die Fürsten mit 
der Entwicklung der Verwaltung das ! Machtmittel in der Hand, das ihnen gestattete, ihren räum- 
lich ziemlich beerenzten Besitz in einer ganz anderen \WVeise, als dies im Lehensstaat der Fall ge- 
wesen war, intensiv zu verwalten und aus dieser Verwaltung heraus die Vorstellung zu gewinuen, 
dass dieser Besitz ein Ganzes sei, das man eventuell als solches auch ausspielen und abschliessen 
könne. Indes aus alledem geht der spezifische Begriff des Staates des 16.—18. Jahrhunderts doch 
noch nicht hervor. Vielmehr kommt hier ein psychologisches Motiv in Betracht, das nur dem Ver- 
laufe der allgemeinen Kulturgeschichte entnommen werden kann. Auf diesem Gebiete bedeuten 
bekanntlich die Jahrhunderte des ausgehenden Mittelalters-und das 16. Jahrhundert die Zeit der 
Renaissance und der Reformation: die Zeit der Befreiung des mittelalterlichen Menschen, die Zeit, 
in der jeder Einzelne anfängt, sich als Persönlichkeit zu fühlen. Es ist eine Tendenz von einer 
Gewalt, wie sie sich in jedem \ Lande Europas von den bekannten Persönlichkeitsmoden der Alltags- 
menschen schon des 15. Jahrhunderts bis zu dem starken Ichbewusstsein der grossen Künstler 
und Reformatoren verfolgen lässt. Im 17. und 18. Jahrhundert wird dann vollends klar, und im 
18. Jahrhundert namentlich im Gegensatz zu den späteren Zeiten, worin dieser Individualismus 
eigentlich bestand. Es handelt sich dabei um eine freiere Stellung der Persönlichkeit, die noch nicht 
so weit geht, diese Persönlichkeit gegenüber den grössten bindenden Mächten des Lebens: der 
Kirche, dem Staate, der wissenschaftlichen Tradition, dem alten Glauben als absolut freies Subjekt 
hinzustellen; Pflicht zur Durchbildung einer eigenen Lebensanschauung als für den Einzelnen un- 
erlässlich war noch keine Forderung dieser Zeiten, und ein Nachdenken über den Staat von absolut 
freier Grundlage aus schien gefährlich. Die freie Persönlichkeit war also noch nicht Subjekt, sondern 
den grössten Werten ihrer Gegenwart unbedingt und eingestandenermassen unterworfen. Damit 
hängt es zusammen, wenn der Einzelne gegenüber allen anderen gleichsam als isoliert erscheint. 
Er hat noch nicht das Bedürfnis der Auswirkung, welches die subjektive Persönlichkeit des 18. und 
19., Jahrhunderts besitzt, denn er macht in den höchsten Dingen noch keineswegs für Lösungen 
persönlichen Charakters Propaganda, und er ist, da ihm diese eben genannten Besonderheiten 
seines Wesens anhaften, nicht so sehr Gemüts- und Willensmensch, wie das der Mensch des 19. Jahr- 
hunderts ist, sondern auf den Verstand gestellt, rationell und intellektuell. Zieht man die seelischen 
Konsequenzen aus diesen Zuständen, so begreift sich, dass der Mensch des 15.—18. Jahrhunderts 
in Staatsdingen, die immer Auswirkung und Leidenschaft voraussetzen, sehr zurücktrat und sich 
im allgemeinen gegenüber den grossen Mächten des Daseins in einer isolierten Stellung befand, 
welche die Gesellschaft in weiter nichts als eine Summation von Einzelnen auflöste. Es ergibt sich 
also, dass der psychologische Zustand dieser Zeit den Absichten und Zwecken des territorialen 
Staatswesens nur isolierte Individuen entgegenstellte, den bekannten Sand am Meer, von dem 
man so häufig mit Rücksicht auf die Individuen des 18. Jahrhunderts gesprochen hat. Unter diesen 
Umständen begreift es sich, dass die neue Verwaltungsmaschinerie des Absolutismus von aussen 
wenig Anstoss erhielt. Immer weniger von dem alten korporativen Leben des Mittelalters fand 
sie sich gegenüber, immer hilfloser und vereinzelter stellten sich ihr die einzelnen Personen dar, 
immer entschiedener und bis in die grössten Einzelheiten hinein griff sie für den Staat auf staatliche 
Befehle hin durch. Dabei war charakteristisch, dass sie ein eigentliches Ziel positiver staatlicher 
Betätigung in sich nicht besass, sie ist in dieser Beziehung vielmehr, als ein rein neutrales Werkzeug 
der Machtauswirkung, von der Entwicklung und der Vorstellung über den Staatszweck von anderer 
Seite her abhängig geblieben. Doch waren in dieser Richtung allerdings einige Ziele mit der 
Existenz der absoluten Monarchie als solcher gegeben. Dem absoluten Herrscher musste immerhin 
die Zusammenfassung des Staates zu einem Ganzen, die Geltendmachung der finanziellen Hilfs- 
kräfte und der militärischen Gewalt nahe liegen. Auch der Gedanke der einheitlichen Vermehrung 
seines Besitzes und aus ihm heraus die Vorstellung dieses Besitzes als eines in sich einheitlich ge- 
webenen Wesens musste ihm kommen, und so war prinzipiell und primitiv der Staatsgedanke 
allerdings schon im Charakter des Absolutismus gegeben. Allein darüber hinaus ist der” eigent- 
liche Inhalt der politischen Tätigkeit des Absolutismus doch erst durch die Abfolge der grossen
	        
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